Irgendwann gegen Ende des zweiten Drittels hat Jamie einen Tiefpunkt erreicht, wie man ihn nur mit einem alten Bluessong treffend beschreiben kann: "Lord, I'm so lowdown, I think, I'm looking up at down. So tief unten bin ich, Herr, ich sage dir, tief ist noch über mir." Zuckend und sich unter den Stromstößen einer Elektroschock-"Therapie" in einer Psychiatrischen Anstalt in Phoenix, Arizona, windend, schreit sie sich ihren armen Rest an Seele aus dem Leib. Sie glaubt, innerlich zu verbrennen. Nichts geht mehr. In dieser Welt kann es keine Erlösung geben, nicht einmal durch eine Engelserscheinung:"Die ganze Botschaft wird bloß der Rhythmus und die Richtung der Zeit sein. Ja ist jetzt. Und der Engel sagt: ,Es ist Zeit.' ,Ist es Zeit?' fragte sie. ,Tut es weh?' Er wird das schönste Gesicht haben, das sie je gesehen hat. ,Ach, Kleines.' Der Engel fängt an zu weinen. ,Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie', sagte er." Ganze 18 Jahre hat es gebraucht, bis Angels, der in seiner lakonischen Wucht erschütternde Debütroman des hierzulande erst im Vorjahr mit einer Verfilmung von Jesus' Son und einer Übersetzung seines "kalifornischen Schauerromans", Schon tot, bekannt gewordenen, in den USA längst zu den Großmeistern gerechneten Autors Denis Johnson einen deutschen Verlag gefunden hat. Von seiner Gültigkeit hat Engel, diese Reise in die tiefste amerikanische Nacht, nichts verloren. Johnson, der als ehemaliger Lehrer in staatlichen Gefängnissen die Schattenseiten der US-Gesellschaft aus eigener Anschauung zu beschreiben versteht wie zuletzt nur Column McCann in Himmel unter der Stadt oder J. T. LeRoy in Sarah, entwirft in Engel anhand des sich in einem Greyhound-Bus kennen lernenden Verliererpaares Jamie und Bill ein an und für sich konventionelles Roadmovie im bildlich wie sprachlich knapp bemessenen Badlands-Stil. Allerdings beschränkt sich Johnson nicht darauf, seine Protagonisten fatalistisch dem Untergang entgegen zu jagen. Über Ladenüberfälle, eine Jamie in den Wahnsinn und ins ewige Drogendelirium treibende, drastisch geschilderte Vergewaltigung und schließlich einen missglückten Banküberfall, bei dem Bill einen Mann erschießt, reichert Johnson die Story mit biblisch wie populärkulturell verbrämten Bildern an und entwickelt so eine Passionsgeschichte von Elend und Gewalt, an deren Ende möglicherweise kein Hoffnungsschimmer leuchtet, zumindest aber Trost gegeben wird. Hier wird, wie es lapidar heißt, in einem schäbigen Cafe am Rande eines Highways, unter dem tröstend zu den Menschen sprechenden Porträt Elvis Presleys als prototypischer US-White-Trash-Ikone, "bloß eine Geschichte" erzählt, "etwas, womit man sich die Zeit vertreiben kann, die die Gewalt in einem Mann braucht, um ihn zu verschleißen oder selbst verzehrt zu werden, je nachdem, wer die Kerze ist und wer das Licht." Das Banale, das Klischeehafte, eine immer wieder in den Protagonisten geradezu mechanisch aufblitzende Religiosität ohne Gott, unreflektiert heruntergebetete Bibelzitate als vermeintliche Lebenshilfe, sie sind ständige Gäste in dieser tristen Welt, die Jamie mit ihren zwei kleinen Kindern anfangs aus einem kalifornischen Trailerpark und vor ihrem brutalen Ehemann flüchten lässt. Die Sprachlosigkeit des "White Trash", der sozial deklassierten weißen Bevölkerung der USA, die heute im Pop vor allem mit den milchgesichtigen Rappern Eminem, Kid Rock oder Bubba Sparxxxs einen Befreiungsschlag sucht und zur Entstehungszeit von Engel 1983 noch auf im Buch öfters erwähnte, bigotte und selbstmitleidige Country-Songs zurückgreifen musste, wird von Johnson zu keiner Zeit in Frage gestellt, vielmehr emotionslos notiert. Das Gefängnis, in dem Bill schließlich auf die Gaskammer wartet, während Jamie als gebrochenes, aber ruhig gestelltes Häufchen Mensch aus der Psychiatrie ins "Leben" zurück entlassen wird, dieses Gefängnis benötigt keine Mauern, es hat schon lange vorher in diesen Menschen existiert. Bill ist bis zuletzt nicht klar, warum er sterben muss. Während das Gas unter seinen Füssen aufsteigt, grübelt er über den an der gegenüberliegenden Wand angebrachten Spruch "Der Tod ist die Mutter der Schönheit" nach. Zwischen Leben und Tod liegt nur jener Sekundenbruchteil, der darüber entscheidet, ob man seinen Revolver abfeuert oder nicht. Wahrscheinlich hat man keine Wahl. Der beste Film des Jahres findet dieses Mal auf Papier statt. (Von Christian Schachinger - DER STANDARD, Album, Sa./So., 22.12.2001)