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Foto: Archiv
Kein anderes Kleidungsstück erfuhr seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine leidenschaftlichere Zuwendung breiter Bevölkerungskreise als die Blue Jeans. Elfriede Jelinek sagt über die Unausweichlichkeit dieses zumeist politisch konnotierten Stoffes der westlichen Moderne: "Ich habe in den 60er-Jahren auch nur Jeans und T-Shirts getragen. Etwas anderes hätte ich mich nicht getraut, das wäre auch gar nicht möglich gewesen, ich wäre sozial isoliert worden." Ende der 90er-Jahre suchte das Laufstegpublikum Zuflucht zu Jeans. Natürlich nicht zu irgendwelchen Jeans. Big-E-Jeans (dunkelblaue Levis, bei denen das E auf dem roten Label groß geschrieben war, was heißt, dass sie vor 1960 produziert worden waren) stellten die uniformierte Lösung für Fashionvictims dar, um einerseits in einer indifferenten Masse zu verschwinden und doch in vornehmer Distinktion unter sich zu bleiben und so vor den Expertenblicken zu bestehen. Dieser markenbewusste Gebrauch von Jeans kann als Erfolg aus jüngster Zeit des seit 1850 firmierenden Traditionshauses Levi Strauss & Co verbucht werden, welches auch an der fortwährenden Mystifizierung der "Blue Jeans" maßgeblich beteiligt ist. Das strikt abgeschottete Archiv der Firma wirkt zwar reiner Forschung diametral entgegen, infiltriert jedoch zahlreiche Publikationen, die sich nur auf den zweiten Blick und bei genauem Lesen des Vorwortes als "Industriewerbung"entkleiden. Derartige Denim-Anthologien, die seit den 70er-Jahren zahl-und bildreich die Legende vom Ursprung der Jeans fortschreiben sind nur am Rande Gegenstand von Anna Schobers kulturwissenschaftlicher Studie. Ausgeklammert sind auch die zahlreichen Transformationen und Spiele von Modedesignern zum nicht enden wollenden und immer neu interpretierten Thema Blue Jeans, das gerade jetzt wieder eine Renaissance erlebt. Die junge Historikerin und Kulturwissenschafterin erstellt in akribischer Recherche eine fragmentarische Geschichte und Geographie von Blue-Jeans-Mythen. Im Zentrum steht dabei die Verarbeitung medial vermittelter Bilder und Waren als ein Vorgang, im Zuge dessen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Bilder und gelebtes Leben beständig gegenseitig und in wachsender Geschwindigkeit zitieren: Fotografie und Film machen ihre Objekte zu Klischees, die vom gelebten Leben ihrerseits zitiert werden, was wiederum in Bildern festgehalten wird. Die eingelagerten Momente der "Identifikation" werden von der Autorin als ein "Prozeß der Verkettung der Subjekte in den Fluß visueller Diskurse" aufgezeigt, ohne dabei die widerspenstigen Momente in diesem Prozess zu vernachlässigen. Die Geschichte der mit Blue Jeans verbundenen Mythen liest sich auf diese Weise als eine Mediengeschichte und als eine Geschichte der Wahrnehmung. Präzise Bild- und Filmanalysen von Frank Powells All on the Account of the Milk von 1910 bis hin zu Martin Scorseses Taxi Driver von 1975 gehen weit über den vordergründigen Gegenstand des Buches hinaus, um ihn dann doch wieder einzukreisen und zwar in einer Form, die verschiedene milieuspezifische Deutungen nicht als flottierende Bedeutung um zwei Pole aufsuchen, in sehr vielen von ihnen kann vielmehr eine wiederkehrende Struktur des Deutens festgestellt werden. "Diese Struktur des Deutens ist dadurch gekennzeichnet, daß Blue Jeans zu einer Einschreibefläche für ein ,Mehr' des Realen und ein Zurückweisen des Überkommenen werden können." Anna Schober rekonstruiert die schrittweise Ausbreitung von Körperrepräsentation in Jeans und ihrer historisch spezifischen Milieus in Zeitschnitten - die Ostküstenstädte der USA in den 1910er-Jahren, der Bilderstreit im New-Deal-Amerika der 30er-und 40er-Jahre und der Sprung der Blue Jeans in die westdeutsche Fanszene der so genannten "Halbstarken" und Homosexuellen der 50er- und 60er-Jahre. Beschrieben werden vor allem die "Geschichte(n) in den Dingen, d.h. jene Ängste, Begierden und Wünsche, die in Blue Jeans gewissermaßen "eingemietet" worden sind. Solche Geschichte(n) führen nämlich genau zu der Einsicht, daß wir die Dinge nicht als unveränderliche gegebene, materielle Objektwelt haben, sondern immer nur als Umbildung oder Abwandlung." Bei Anna Schober wird die Jeans nicht zu einem leeren Punkt von Übereinstimmung, wo längst jeder Träger diese mit einem anderen verlorenen Traum identifiziert, sondern zur pluralen Erzählung, "in der die verschlungenen Wege des Zusammenspieles zwischen massenmedialer Vorführung und milieuspezifischer Praxis der Verbraucher demonstriert werden", die immer wieder Gegenerzählungen provoziert. Nach dem Studium dieser Abhandlung wird es zugegebenermaßen keineswegs leichter, Jeans zu tragen, doch entlässt die Autorin den Leser mit einer aufmunternden Aufforderung: "Es könnte sein, daß sich unser Standpunkt verändert und wir dazu kommen, weniger an der Zwiebelfrage Interesse zu finden, an dem, was unter allen Masken steckt, sondern mehr an den Möglichkeiten von Masken, im Alltagswelttheater Aufgaben zu übernehmen. Womit dann auch den Jeans neue Potentiale innewohnen würden: Man könnte sie beispielsweise umdrehen und mit der verkehrten Seite nach außen gestülpt tragen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23. 12. 2001)