Als Leonardo da Vinci (1452-1519) an seinem Lebensabend im Jahr 1516 Italien endgültig den Rücken kehrte, um seine letzten Tage in Frankreich zu verbringen, nahm er nur drei Gemälde mit auf den Weg. Er sollte sie bis zu seinem Tod im Jahr 1519 bei sich behalten. Es waren diese das Bildnis der Heiligen Anna Selbdritt, das verschollene Porträt einer Florentinerin sowie das wahrscheinlich allerletzte Gemälde, das der Renaissancemeister gemalt hatte. Es stellt Johannes den Täufer dar.Seit fast einem halben Jahrtausend gilt das dunkle, mysteriöse Gemälde als eines der rätselhaftesten Werke der gesamten abendländischen Kunstgeschichte. Leonardos Johannes hat Generationen von Betrachtern, Wissenschaftern und Kirchenfürsten nachhaltig beschäftigt - oder besser, beunruhigt. Denn dieses Bild scheint mehr zu zeigen als den letzten alttestamentarischen Propheten, der mit Tierfellen bekleidet in der Wüste lebte, sich von Honig und Heuschrecken nährte und das Kommen des Messias verkündete. Dieser Johannes der Täufer blickt den Betrachter keineswegs in der Darstellungstradition eines rauen, biblischen Gesellen an. Er ist vielmehr ein geschmeidiges, androgynes Geschöpf, das aus einer undefinierbaren kohlschwarzen Finsternis auftaucht und ein überirdisches, seltsames Licht widerspiegelt, dessen Quelle irgendwo außerhalb des Betrachterhorizonts angenommen werden muss. Die Proportionen der rechten Schulter und des rechten Armes sind seltsam, das Lächeln wirkt geheimnisvoll, fast anzüglich - kurzum, alles an diesem Bild ist irgendwie eigenartig, unpassend und trotzdem außergewöhnlich faszinierend. Dem Werk, das heute im Louvre hängt, wurde denn auch über die Jahrhunderte gehörig und wiederholt Antipathie entgegengebracht. Der italienische Kritiker Marco Rosci beschreibt, dass es Leonardos Zeitgenossen als "unschicklich" und "unzüchtig" erachteten: "Und zwar erregten nicht allein die eindeutig zwitterhaften Gesichtszüge und die körperliche Erscheinung des Vorläufers Christi bei Be-trachtern und Kritikern Anstoß, sondern darüber hinaus sein rätselhaftes Lächeln und der deutend erhobene Finger, kurz, die ganze freie, unorthodoxe Art, die das Geheimnis und die Ambivalenz des vielleicht raffiniertesten Werkes Leonardos ausmacht." Auch nach Ansicht des amerikanischen Kunsthistorikers Jack Wasserman "ruft dieses Gemälde in vielen, die es betrachten, feindselige Reaktionen hervor. Man fühlt sich ziemlich abgestoßen durch die schlaffe und zuweilen schlecht erfasste Anatomie, durch das verwirrende und mehrdeutige Lächeln der Figur und durch ihren merkwürdig androgynen Charakter." Kenneth Clark schließlich, der mittlerweile verstorbene und wohl renommierteste Leonardo-Kenner, beschrieb den Johannes in seiner berühmten Biografie (Kenneth Clark, Leonardo da Vinci, Rowohlt) folgendermaßen: "Unter Leonardos Arbeiten ist der Hl. Johannes am wenigsten populär. Dem Geschmack mancher Kritiker hat er so wenig entsprochen, dass sie ihn zum Werk von Gehilfen erklärt haben. Das ist sicherlich falsch. Der Hl. Johannes ist ein verwirrendes Werk, aber in jedem Zoll davon spürt man die Hand Leonardos. Selbst wenn wir es nicht mögen, müssen wir zugeben, dass es sowohl als Abbild als auch als Komposition eine Kraft besitzt, die uns in der Erinnerung beunruhigt. Den ersten Anlass unserer inneren Unruhe bietet die Ikonographie. An dem Kreuz, das sie hält, erkennen wir in dieser ungewöhnlichen Kreatur den heiligen Johannes, und wir müssen versuchen, die Frage zu beantworten, warum Leonardo, der der Interpretation eines Themas so viel Bedeutung beimaß, ein Bild geschaffen hat, das sich auf fast blasphemische Weise von dem leidenschaftlichen Asketen der Evangelien unterscheidet." Eine "innere Unruhe" also, die durch die Betrachtung dieser "ungewöhnlichen Kreatur" ausgelöst wird, und ein Hauch von Blasphemie, der da irgendwo zwischen Dunkelheit und Licht schwebt. So weit Wissenschaft und Kunstkritik. Vor gut einem Jahr saß in Wien der Nichtwissenschafter und Nichtkunsthistoriker, gleichwohl aber seit Jahrzehnten passionierte Leonardo-Bewunderer Dietmar Gössweiner (53) wieder einmal vor einem Kunstdruck ebendieses Johannes und betrachtete ihn, wie schon so oft, eingehend. Er schaute lange in das Bild. Sehr lang. So lang, bis es vor seinen Augen verschwamm und ein Geheimnis preisgab: Durch die hauchzarten Lasurschichten des Sfumato schimmerte plötzlich ein ganz anderer Bildinhalt, und anstelle des Heiligen sah Gössweiner mit einem Mal klar eine Ungeheuerlichkeit: Aus der Finsternis tauchte der präzise ausgearbeitete Kopf eines Panthers auf. Der Effekt ist verblüffend und für jeden leicht nachvollziehbar, der sich ein wenig Zeit nimmt, um genau zu schauen und sich auf das Bild einzulassen. Ob Panther oder eine andere Kreatur - der Kopf des Johannes wird zum rechten, seine gen Himmel deutende Hand zum linken Auge des Tieres, der abgewinkelte Ellenbogen zeichnet den Umriss der Schnauze nach. Die Figur erscheint, wenn einmal erkannt, dermaßen perfekt und markant, dass man kaum an einen Zufall glauben mag. Doch an der Frage, ob Leonardo da Vinci, der nicht religiös war, das Tier mit Absicht oder unbewusst über den heiligen Johannes gesponnen hat, mögen Kunsthistoriker kiefeln. Dietmar Gössweiner hat jedenfalls vor, seine Entdeckung zu publizieren und in größerem Rahmen der Fachwelt zur Kenntnis zu bringen. "Ich bin kein Fachmann", sagt er, "doch ich habe 25 Jahre lang Leonardos Bilder angeschaut, wie andere Leute Musik hören oder fernsehen. Ich bin in die Bilder hineingegangen, habe mich dort wohl gefühlt. Die Entdeckung war völlig überraschend, und weil es so überraschend war, habe ich gewusst, es stimmt." Auch wenn es vermessen und laienhaft erscheinen mag, so mögen an dieser Stelle doch ein paar Anmerkungen zu Leonardos Lebenssituation und der Zeit, in der der Johannes entstand, gestattet sein. Es wird fast mit Sicherheit angenommen, dass Leonardo das Bild um 1515 während seines zweijährigen Aufenthalts in Rom gemalt hat. 1513 hatte er Florenz verlassen und war in die Dienste des Giovanni de' Medici getreten, der kurz zuvor zum Papst ernannt worden war. Leonardos römische Jahre waren von einem Geist der Düsternis geprägt, die Konkurrenz der römischen Künstler untereinander war enorm, sein Erzrivale Michelangeo arbeitete unter großer populärer Anteilnahme an der Sixtinischen Kapelle, ein anderer Stern, Raffael, war gerade im Aufgehen begriffen. Der alternde Leonardo zog sich in eine verdrießliche Einsamkeit zurück. Giorgio Vasari berichtet in seinen "Lebensläufen" von seltsamen hauchzarten Tiergestalten, die der Künstler in dieser Zeit aus Wachs formte und durch die Luft fliegen ließ, von lebenden Eidechsen, denen er Flügel anklebte und von Hammeldärmen, die er aufblies, bis sie den Raum ausfüllten. Zur gleichen Zeit zeichnete er seine berühmten Sintflutvisionen - und er skizzierte diverse Studien von Katzen, die er als "die Krone der Schöpfung" bezeichnete. Die Katze im Johannes, davon ist Gössweiner überzeugt, ist ein "unbewusster Bildinhalt: Ein Teil Leonardos Unbewussten wird hier erstmals als Bild sichtbar." Zufall oder nicht - kein anderer Künstler hat die Psychoanalytiker mehr herausgefordert als Leonardo. Im gesamten umfangreichen Traktate- und Notizbuch-Nachlass des ersten Universalisten finden sich dabei nur erstaunlich wenige persönliche Eintragungen. Die berühmsteste beschreibt einen Kindheitstraum: "In der frühesten Erinnerung meiner Kindheit schien es mir, als ich in der Wiege lag, dass ein Hühnergeier zu mir herunterkam und mir mit seinem Schwanz den Mund öffnete und mich mit seinem Schwanz viele Male zwischen die Lippen schlug. Dies scheint mein Schicksal zu sein." Schon Sigmund Freud versuchte diesen Traum 1910 in einem Aufsatz zu deuten. Wie jeder Künstler, so die hier sehr vereinfacht wiedergegebene These, bringe auch Leonardo in seinen Werken das Unbewusste in eine Gestalt. Clark meinte dazu: "Ob wir nun den ausgefeilteren Lehren der Psychoanalyse Glauben schenken oder nicht - wir alle wissen, dass aus irgendwelchen Tiefen unbewussten Erinnerns Symbole in unser Gedächtnis treten, und dass selbst der größte Verstand einen Teil seiner Kraft aus einem dunklen Zentrum animalischer Vitalität zieht. (. . .) Es hat nie einen vielfältigeren und geheimnisvolleren Charakter gegeben, und jeder Versuch einer Vereinfachung würde der ganzen Tätigkeit seines Geistes zuwiderlaufen." Leonardo, schon in seiner Jugend eine Legende, versuchte wie kein anderer zuvor Wissenschaft und Kunst in einen Kontext zu bringen. Er analysierte den Flug der Vögel und betrieb als erster Künstler präzise anatomische Studien. Laut Clark ist diese Liebe Leonardos zur Natur in allen seinen Werken sichtbar. In seinem Trattato wies er den Schauenden etwa an, in Flecken an Mauern "Dinge zu erblicken", Schlachten und Landschaften zu sehen. Ob Leonardo mit seinem letzten Bildnis die Kunstwelt ein halbes Jahrtausend lang gefoppt hat oder ob die Katze im Johannes diesem "dunklen Zentrum animalischer Vitalität" entsprang, mögen nun die Experten beurteilen. Dass das Tier im Heiligen sichtbar wird, darüber besteht jedoch kein Zweifel. Clark meinte jedenfalls, "dass Leonardo sich vom hl. Johannes eine ganz persönliche Auffassung gebildet hatte, die wir deuten müssen, so gut wir eben können. (. . .) Johannes der Täufer war der Vorläufer der Wahrheit und des Lichtes. Und was ist der unvermeidliche Vorgänger der Wahrheit? Eine Frage. Leonardos Hl. Johannes ist das ewige Fragezeichen, das Rätsel der Schöpfung. So wird er Leonardos Vertrauter - der Geist, der hinter ihm steht und nicht zu beantwortende Rätsel vorbringt. Er hat das Lächeln einer Sphinx und die Gewalt einer immer wiederkehrenden Gestalt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23. 12. 2001)