Sieht man den Namen der Universität, glaubt man, nichts habe sich verändert in den letzten zehn Jahren: "Universität der Freundschaft der Völker" steht da. An der Lehreinrichtung im Süden Moskaus haben in sowjetischer Zeit Tausende von Studenten aus den "sozialistischen Bruderländern" studiert, und auch heute ist das Sprachenbabel auf dem Hof vor der Universität noch groß.

Doch betritt man einen der engen Klassenräume und spricht mit den russischen Studenten, die hier ihre Ausbildung zum Bauingenieur mit 17 oder 18 Jahren gerade begonnen haben, wird schnell klar: Diese jungen Leute leben längst in einer neuen Welt. Allerdings erinnern sie sich lebhaft an die Sowjetunion.

Auf die Frage, was sie aus der alten Zeit noch vor sich sehen, ruft ein Mädchen schnell und spontan: das Schlangestehen. Rundherum erschallt Gelächter, doch dann fallen alle in den Chor ein. Es sei schwierig gewesen, alles zu finden, was man brauchte. "Kaugummi gab es keinen", sagt jemand. "Wenn es einmal etwas zu kaufen gab, wurden riesige Vorräte von Waren angelegt, die eigentlich gar niemand brauchte."

Schuluniformen

Schuluniformen habe man zur Zeit der Sowjetunion noch tragen müssen, erinnern sich die jungen Leute an den Konformismus von einst. Doch durch die ideologischen Mühlen sind sie schon nicht mehr gegangen. Für die sozialistischen Jugendverbände waren sie vor zehn Jahren noch zu jung, nur einer aus der Klasse ist noch für ein paar Monate Oktjabrjonok (Kind des Oktobers) geworden: die erste Stufe der sowjetischen Jugendorganisationen.

Früher sei alles organisiert gewesen, habe es zahlreiche Komitees gegeben, dann sei alles auseinander gefallen, erzählen sie. Auseinander gefallen ist auch ihre Heimat: Vor zehn Jahren habe man ans Meer in die Ferien fahren und dort in Rubel bezahlen können. In der Sowjetunion habe es keine Grenzen gegeben, und das vermissen die jungen Leute heute.

Die Wende hat auch neue soziale Probleme an die Oberfläche gebracht: Heute gebe es in Russland Drogenabhängige, Obdachlose, organisierte Kriminalität. Ob es das nicht schon vorher gab? Die jungen Leute zucken die Schultern. Zumindest habe man nichts davon gewusst.

Die Militärs lebten heute sehr schlecht, klagt Jewgenija. Sie weiß es aus eigener Erfahrung, ihr Vater ist bei der Armee. Früher hätten die russischen Mädchen davon geträumt, einen Offizier zu heiraten, erzählt die Lehrerin Ljudmila Alexejewna ihren Studenten. Ein Blick in die Gesichter der jungen Frauen zeigt: Auch dies hat sich gründlich geändert.

Schenja hat seine eigene Erinnerung an die Sowjetunion: Die Eishockeymannschaft des Landes sei die beste der Welt gewesen. Heute gingen die jungen Sportler ins Ausland, klagt er. Doch nachtrauern tut er der Sowjetunion nicht - nicht einmal aus sportlichen Gründen. Damals habe es keine Freiheit gegeben. Heute könne jeder sagen, was er wolle, das sei für ihn wichtig. Auch Walerija betont, sie könne sich ein Leben in der Sowjetunion nicht mehr vorstellen - und sie wolle es auch nicht. Die anderen sind ihrer Meinung, trotz der langen Aufzählung von Negativpunkten, die der Umbruch mit sich gebracht hat.

Nur Mitja findet, er würde gerne zurück in die Vergangenheit. Es werde nie wieder so einfach sein, schnelles Geld zu machen, wie in der Endphase der Sowjetunion. Die Jugendlichen berichten lachend von Fernsehseancen, bei denen ein Parapsychologe der Nation über den Fernsehschirm heilende Kräfte zukommen ließ und den verunsicherten Menschen versprach, alles werde gut. Auch den Pflanzen konnte via TV geholfen werden: Wasser, das vor den Fernseher gestellt wurde, ließ sie angeblich besonders schön sprießen. Der Mann wurde davon reich.

Langsame Erholung

Doch neben den Gewinnern der Wende kennen die Jugendlichen auch die Verlierer: die geprellten Anleger der MMM-Sparpyramiden etwa, die dem Spekulanten Sergei Mawrodi auf den Leim gingen und ihr Erspartes verspielten. Ein traumatischer Einschnitt ist für die Studenten auch die Finanzkrise von 1998. Viele Menschen hätten mit der Rubelabwertung nicht nur ihr Geld, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft verloren. Danach sei alles viel schwieriger geworden. Erst jetzt erhole sich das Land allmählich, finden die meisten. Es gehe bergauf, das Leben in Russland sei ganz passabel geworden, sagt Schenja. Bis auf den Krieg in Tschetschenien, der sei schlecht.

Dennoch hat sich der junge Mann etwas von der Begeisterung über Präsident Wladimir Putin anstecken lassen. Lena hingegen kann mit Politikern grundsätzlich nichts anfangen. Weder den ersten russischen Präsidenten, Boris Jelzin, noch Gorbatschow findet sie sympathisch, und mit Putin geht es ihr nicht anders. Die Mädchen sind sich einig, alle schütteln zum Thema Putin den Kopf: Er sei sehr schwer zu durchschauen und zu beurteilen. Schenjas Begeisterung können sie nicht verstehen. Politik sei, da ist sich wiederum die ganze Klasse einig, eine ausgesprochen schmutzige Angelegenheit. Die zwölf jungen Menschen wünschen sich und ihrem Land für die Zukunft vor allem Ruhe. Sie hoffen auf politische und wirtschaftliche Stabilität. Sie hoffen, dass sie vor neuen Zusammenbrüchen verschont bleiben. Schenja gibt sich da betont optimistisch: "Russland ist das beste Land der Welt. Es wird nicht untergehen." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.12.2001)