"Beim nächsten Mal" werde es ganz bestimmt militärische Konsequenzen geben, hatte die indische Führung Anfang Oktober angesichts von 38 Terrortoten in Srinagar im indischen Teil Kaschmirs die Faust in Richtung Pakistan geballt. Das "nächste Mal" sieht man in Indien mit dem Überfall auf das Parlament in Delhi vom 13. Dezember gekommen, in Umfragen verlangen mehr als 80 Prozent der befragten Inder Vergeltungsschläge gegen Ausbildungslager von kaschmirischen Separatisten in Pakistan (die längst geräumt sein dürften: Das hat man von Osama Bin Laden in Afghanistan gelernt).

Washington hat seine beiden Partner in der Antiterrorallianz aufgefordert, nicht einander, sondern die Terroristen zu bekämpfen. Hinter den Kulissen wird mit allen Kräften an einer diplomatischen Lösung gearbeitet. Aber "am gefährlichsten Ort der Welt", wo zwei Atommächte Kaschmir zur identitätsstiftenden Frage erhoben haben, werden die Kriegstrommeln lauter.

Indien bekomme "von Pakistan einen Krieg aufgezwungen", beklagt der indische Regierungschef Atal Behari Vajpayee. Tatsächlich müsste Pakistan, um Vajpayee vom Druck der Haudraufs in seiner eigenen Regierung zu entlasten, Forderungen erfüllen, die Indien "minimal" nennt. Dass Islamabad den Kaschmir-Aktivisten Maulana Masud Azhar - dessen Freilassung aus einem indischen Gefängnis übrigens vor zwei Jahren durch eine Entführung einer indischen Verkehrsmaschine nach Kandahar (!) erpresst wurde - unter Hausarrest stellen ließ, ist ein Anfang, aber auch nicht mehr aus der Sicht Delhis. Das gilt auch für das Einfrieren einiger Konten von separatistischen Organisationen.

Die indische Forderung, die bekanntesten im Kaschmir operierenden islamistischen Terrorgruppen zu verbieten - womöglich, ohne ausreichende Beweise für deren Beteiligung am Attentat in Delhi vorzulegen -, dreht die Schrauben, zwischen denen sich der pakistanische Staatschef Pervez Musharraf befindet, weiter zu. Dass er sich nach dem 11. September über die weit verbreiteten pakistanischen Sympathien für die Taliban und Osama Bin Laden in seinem Lande hinwegsetzte und mit den USA kooperierte, hat er politisch besser überstanden, als zu befürchten gewesen war. Wenn nun - was als einziger Weg zu einer Deeskalation zwischen Indien und Pakistan zu hoffen ist - zu einer generell härteren Gangart gegenüber den Islamisten auch noch konkrete Kampfansagen gegen die Kaschmir-Kämpfer und natürlich ihre Hintermänner im pakistanischen Geheimdienst kommen, wird die Wut auf den Präsidentengeneral steigen.

Dazu kommt die drohende Destabilisierung durch aus Afghanistan geflohene Taliban und Mitglieder von al-Qa'ida, deren enge Beziehungen zu den Kaschmir-Kämpfern bekannt ist: Viele von ihnen wurden in Lagern der Organisation in Afghanistan ausgebildet.

Musharraf hat seine Situation am Mittwoch in einer Rede anlässlich des 125. Geburtstages des Gründers von Pakistan, Mohammed Ali Jinnah, selbst ziemlich plastisch dargestellt. Zwar fehlte nicht die übliche nationalistische Pose - "Wir sind bereit" -, genauso führte er aber die "bösen, bigotten Extremisten, denen wir nicht erlauben werden, uns in den Abgrund zu führen" an. Genau das könnte ihnen jetzt aber gelingen.

Aber die Einsicht, dass Musharraf viel besser ist als das, was im Fall eines Kippen Pakistans nach ihm kommen würde, wird Indien nach dem Überfall auf das Parlament nicht mehr genügen - obwohl allein die Vorstellung, dass die pakistanischen Islamisten jemals die Kontrolle über die pakistanischen Atomwaffen bekommen könnten, dazu angetan wäre, Musharraf zu hegen und zu pflegen. Aber die Angst, dass aus einer begrenzten konventionellen Auseinandersetzung eine nukleare werden könnte, greift in der Region offensichtlich nicht recht: Beobachter sprechen vom gefährlichen Fehlen eines "Hiroshima-Bewusstseins" sowohl in Indien als auch in Pakistan. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.12.2001)