Frederic Leighton, The Sluggard 1885, Tate |
So suggerierte ein liegender Körper weitaus mehr Sinnlichkeit und Sexualität als eine stehende Figur, solange diese allein dargestellt war. Erzählte das Bild eine Geschichte, noch dazu mit Personen beiderlei Geschlechts, trat erneut das Begehren in den Vordergrund.
"Shocking": Allzu oft konnten Viktorianer nur mehr mit diesem Wort auf neue Werke reagieren. Eine ganze Reihe von Künstlern mussten sich den Vorwurf der "Unanständigkeit" gefallen lassen oder gar ihre Bilder umarbeiten.
So empfanden Betrachter die Haut der gefesselten nackten Frau auf einem Gemälde von John Everett Millais als derart realistisch und sinnlich und die Tatsache, dass sie ihren männlichen Befreier anblickte, als so kühn, dass Millais nichts übrig blieb, als erneut zum Pinsel zu greifen: Nun wendet die Frau den Kopf ab, die Haut ist verfremdet.
Akt als Politikum
Mit verbaler Kritik war es freilich nicht getan. Bis ins 20. Jahrhundert hinein reagierten Museumsbesucher immer wieder direkt auf Aktdarstellungen. Während einige Betrachter Gemälde regelrecht attackierten, wurden andere bei dem Versuch ertappt, dargestellte Personen zu küssen, weiß die Kuratorin zu berichten. Für Skandale war regelmäßig gesorgt, das Thema der Aktdarstellungen wurde politisiert und damit "deren Sichtbarkeit" garantiert. Die Neugierde der Viktorianer war geweckt, die Toleranzgrenze stieg, da konnten "die Philister" opponieren, so viel sie wollten.
Sadismus, Geißelungen, Unterwerfung und Erregung wurden allmählich so unverhüllt dargestellt wie homoerotische Szenen. Vorbei war die Zeit, in der Künstler durch die Wahl von Motiven aus der britischen Literatur und dann aus der Antike noch eine gewisse "Überhöhung" und "Purifizierung" des Aktes anstrebten. Den Verfall schrieb so mancher Kritiker dem schädlichen Einfluss von jenseits des Ärmelkanals zu, aus jenem Frankreich also, aus dem damals die frühen erotischen Filme kamen, von denen einige im Rahmen der Schau zu sehen sind.
Allen Kassandren zum Trotz lebt und gedeiht die britische Kunst jedenfalls weiter, wie die nunmehr zugängliche Neugestaltung der permanenten Tate-Sammlung belegt. Unter dem Titel "Collections 2002-1500" gibt sie nicht nur den bislang größten Überblick über 600 Jahre britisches Schaffen, von der Renaissance über Hogarth, Gainsborough, Blake, Turner, Constable, die Präraffaeliten, Bacon und Hockney bis hin zu zeitgenössischen Videokünstlern. Das ursprünglich Tate Gallery genannte Museum wird damit wieder den Vorstellungen seines Gründers Henry Tate als einer Art Nationalgalerie einheimischer Kunst gerecht. Dieses Konzept war später zugunsten dem einer internationalen Sammlung moderner Werke aufgegeben worden.