Die neu gestaltete Tate Britain eröffnete in London mit einer reich bestückten Ausstellung über die Aktmalerei in der für ihre Prüderie berühmten Zeit Queen Victorias und einem Überblick über 600 Jahre britische Kunst.
von STANDARD-Korrespondentin Brigitte Voykowitsch aus London
Foto: Tate Britain, London
Frederic Leighton, The Sluggard 1885, Tate
"Das Thema ist einfach sexy und drängt sich auf in diesem Jahr, in dem wir den 100. Todestag von Königin Victoria begehen." Mit diesen Worten begründete Kuratorin Alison Smith die Wahl der Ausstellung, mit der in der Tate Britain die neue Linbury Gallery eröffnet wurde. Mit "Exposed: The Victorian Nude" ("Enthüllt: Der viktorianische Akt") will Smith auch die überkommene Vorstellung über die Scheinheiligkeit und Prüderie im Britannien des 19. Jahrhundert infrage stellen. So umstritten die Darstellung des nackten Körpers damals zweifelsohne war, so allgegenwärtig war der Akt doch in allen Bereichen der visuellen Künste, von Gemälden der Royal Academy bis hin zu Fotografien und Illustrationen in den Magazinen. "Die Queen und ihr Gemahl Albert selbst pflegten einander an ihren Geburtstagen Aktdarstellungen zu schenken", betont Smith das Interesse des Herrscherpaares an dieser Kunstform, in der allerdings subtile Differenzierungen vorgenommen wurden.

So suggerierte ein liegender Körper weitaus mehr Sinnlichkeit und Sexualität als eine stehende Figur, solange diese allein dargestellt war. Erzählte das Bild eine Geschichte, noch dazu mit Personen beiderlei Geschlechts, trat erneut das Begehren in den Vordergrund.

"Shocking": Allzu oft konnten Viktorianer nur mehr mit diesem Wort auf neue Werke reagieren. Eine ganze Reihe von Künstlern mussten sich den Vorwurf der "Unanständigkeit" gefallen lassen oder gar ihre Bilder umarbeiten.

So empfanden Betrachter die Haut der gefesselten nackten Frau auf einem Gemälde von John Everett Millais als derart realistisch und sinnlich und die Tatsache, dass sie ihren männlichen Befreier anblickte, als so kühn, dass Millais nichts übrig blieb, als erneut zum Pinsel zu greifen: Nun wendet die Frau den Kopf ab, die Haut ist verfremdet.


Akt als Politikum

Mit verbaler Kritik war es freilich nicht getan. Bis ins 20. Jahrhundert hinein reagierten Museumsbesucher immer wieder direkt auf Aktdarstellungen. Während einige Betrachter Gemälde regelrecht attackierten, wurden andere bei dem Versuch ertappt, dargestellte Personen zu küssen, weiß die Kuratorin zu berichten. Für Skandale war regelmäßig gesorgt, das Thema der Aktdarstellungen wurde politisiert und damit "deren Sichtbarkeit" garantiert. Die Neugierde der Viktorianer war geweckt, die Toleranzgrenze stieg, da konnten "die Philister" opponieren, so viel sie wollten.

Sadismus, Geißelungen, Unterwerfung und Erregung wurden allmählich so unverhüllt dargestellt wie homoerotische Szenen. Vorbei war die Zeit, in der Künstler durch die Wahl von Motiven aus der britischen Literatur und dann aus der Antike noch eine gewisse "Überhöhung" und "Purifizierung" des Aktes anstrebten. Den Verfall schrieb so mancher Kritiker dem schädlichen Einfluss von jenseits des Ärmelkanals zu, aus jenem Frankreich also, aus dem damals die frühen erotischen Filme kamen, von denen einige im Rahmen der Schau zu sehen sind.

Allen Kassandren zum Trotz lebt und gedeiht die britische Kunst jedenfalls weiter, wie die nunmehr zugängliche Neugestaltung der permanenten Tate-Sammlung belegt. Unter dem Titel "Collections 2002-1500" gibt sie nicht nur den bislang größten Überblick über 600 Jahre britisches Schaffen, von der Renaissance über Hogarth, Gainsborough, Blake, Turner, Constable, die Präraffaeliten, Bacon und Hockney bis hin zu zeitgenössischen Videokünstlern. Das ursprünglich Tate Gallery genannte Museum wird damit wieder den Vorstellungen seines Gründers Henry Tate als einer Art Nationalgalerie einheimischer Kunst gerecht. Dieses Konzept war später zugunsten dem einer internationalen Sammlung moderner Werke aufgegeben worden.

Die Pläne für die Neugestaltung und auch Erweiterung entstanden 1997 zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums. Mit der Übersiedelung internationaler Werke in die im Vorjahr eingeweihte Tate Modern erhielt die Tate Gallery die neue und ihrer Bestimmung entsprechende Bezeichnung Tate Britain. Neben den räumlichen Erweiterungen und dem verbesserten Service - so soll unter anderem ein zweiter Eingang die Schlangen an den Kassen verringern helfen - geht es Direktor Sir Nicholas Serota aber vor allem darum, neue Besuchergruppen anzusprechen. Mehr Menschen will er anlocken, ganz besonders auch Personen, die nie zuvor ein Museum betreten haben, betont Serota, so, wie das ja bei der Tate Modern schon gelungen sei. Wer die Reise nach London nicht unternehmen kann, soll in Bälde auf der Webseite des Museums "Insight" vorfinden, ein digitales Archiv von 50.000 Werken britischer Kunst. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.12. 2001) "Exposed: The Victorian Nude" bis 27. Jänner 2002 täglich 10-17.40 Uhr. "Collections 2002-1500" täglich 10-18 Uhr. LINK www.tate.org.uk