Santa Monica - Mit Shakespeare ist es wie mit der Weihnachtsgans: Jeder kennt ein Geheimrezept, Bücher wurden geschrieben, Traditionen geflüstert, beste Zutaten beschafft - und doch verblüffen die Resultate der Kunst durch ihre Kläglichkeit: vertrocknet, verunglückt, zäh. Das Königsrezept für das Theater des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Polen verfasst. Von Jan Kott, einem polnischen Professor der Literatur und brillantem Theatertheoretiker in Warschau, der als Sohn jüdischer Eltern die Jahre der Nazidiktatur nur durch die bizarrsten Zufälle überlebt hatte, und der nun, Anfang der Sechzigerjahre, dabei war, sich vom nachstalinistischen Kommunismus zu lösen und bald endgültig in die USA zu emigrieren: "Shakespeare heute"(1961).

Kott hatte in Paris über Apollinaire und de Sade gearbeitet, er las Shakespeare, im Hinterkopf seine Bekanntschaft mit den Surrealisten, mit Beckett und Brechts Aktualisierungen des Shakespeareschen "Coriolan" am Berliner Ensemble. Vor allem aber hatte er Laurence Oliviers Shakespeare-Verfilmungen gesehen. Und entdeckte unter dem Staub der romantischen Tradition den Elisabethaner ästhetisch neu als Hitchcock des Theaters, wiedergeboren aus dem Geist des Films. Im Film erkannte er Shakespeares Prinzip der Szenenmontage wieder, die Großaufnahmen der Monologe, die verfremdende Einverleibung von Tagesereignissen, von Kriminalfällen, Politik und Philosophie.

Kott holte Shakespeare über den Umweg des Films zurück in die Gegenwart des Theaters, und viele Regisseure, allen voran Peter Brook, folgten seiner faszinierenden Lesart. Später, in den 70ern, Jan Kott war bereits nach Amerika emigriert und lehrte vergleichende Literaturwissenschaft an der New Yorker Universität, wandte der "Theoretiker des politischen Mordes" (Brook) sich der griechischen Tragödie zu. "Gott essen" hieß das verblüffende und bis heute viel zu wenig bekannte Resultat seiner Antiken-Relektüre im Zeichen heutiger Politik.

Jan Kott starb mit 87 Jahren in Santa Monica an den Folgen eines Herzinfarkts. (cia)

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.12. 2001)