Argentinien
Argentinien "nur Millimeter von Bürgerkrieg entfernt"
45.000 Polizisten in Buenos Aires in erhöhter Bereitschaft - Vierter Staatspräsident in zehn Tagen
Buenos Aires/Wien - "Wir gehen in Richtung
Anarchie", sagte der Vorsitzende des argentinischen
Einzelhändlerverbandes (CAME), Osvaldo Cornide, kurz nach dem
Rücktritt des Übergangspräsidenten Adolfo Rodriguez Saa am
Sonntagabend in Buenos Aires. Die protestierenden Menschen würden
"nicht aufhören bis man ihnen das Geld zurückgibt", wird Cornide am
Montag in der Internet-Ausgabe der spanischen Tageszeitung "El Mundo"
zitiert. Noch drastischer beschrieb ein Abgeordneter der Radikalen
Partei von Ex-Präsident Fernando de la Rua, Leopoldo Moreau,
gegenüber Reuters die Lage: "Heute sind wir nur Millimeter von einem
Bürgerkrieg entfernt."Sicherheitsvorkehrungen verstärkt
In Erwartung weiterer Unruhen wurden am Montag die
Sicherheitsvorkehrungen an Banken, öffentlichen Gebäuden sowie Flug-
und Bahnhöfen verstärkt. In der Provinz Buenos Aires wurden 45.000
Polizisten in erhöhte Bereitschaft versetzt. Angst vor einer
Intervention der Armee, die seit 1983 unter zivilem Oberfehl steht,
gibt es allerdings keine.
Cornide fordert eine Aufhebung der Beschränkungen des
Zahlungsverkehrs, die schon zum Rücktritt von Staatspräsident
Fernando de la Rua am 20. Dezember geführt hatten und auch von der
Übergangsregierung unter Rodriguez Saa beibehalten wurden, um die
Liquidität des argentinischen Bankensystems zu sichern. Barabhebungen
sind auf 1000 Dollar pro Monat und Person beschränkt. Damit wurde
zwar eine Kapitalflucht verhindert, aber auch der Handel kam zum
Erliegen.
Vierter Staatspräsident in zehn Tagen
Argentinien hat in der Nacht auf Montag mit Eduardo Camano bereits
den vierten Präsidenten innerhalb von zehn Tagen erhalten. Auch er
wird nur 48 Stunden im Amt bleiben. Am Dienstag soll das Parlament
über die weitere Vorgangsweise beraten. Als aussichtsreichster
Kandidat für die Nachfolge von Rodriguez Saa gilt der einflussreiche
Senator und ehemalige Präsidentschaftskandidat Ernesto Duhalde, der
den Peronisten angehört. Sie stellen im Parlament die Mehrheit.
Doch auch dem ehemaligen Vizepräsidenten unter dem Peronisten
Carlos Menem wird kaum eine Welle der Sympathie entgegenschlagen.
Duhalde gilt als Peronist der alten Schule, der sich für
Industrieprotektionismus und staatliche Arbeitsbeschaffung stark
macht. Die Vereinigte Linke hat für Montagmittag Ortszeit bereits
neue "Pfannen- und Topf-Proteste" - diesmal gegen Duhalde - vor dem
Parlamentsgebäude in Buenos Aires angekündigt.
Vertrauen in politische Klasse verloren
Nach vier Jahren Rezession, steigender Arbeitslosen- und
Kriminalitätsrate haben die Argentinier ihr Vertrauen in die
politische Klasse verloren und geben ihr die Schuld an den
Missständen. Viele Politiker werden auf der Straße angegriffen und
mit Eiern beworfen oder bespuckt, ein ehemaliger Minister musste
unter Polizeischutz vor einer Gruppe von 50 erzürnten Bürgern aus
einem Cafe in Buenos Aires flüchten.
Nach dem Rücktritt von De la Rua unter dem Druck schwerer Unruhen
wegen der Wirtschaftskrise und den Sparmaßnahmen der Regierung
übernahm zunächst Senatspräsident Ramon Puerta für zwei Tage das
höchste Amt im Staat, bis der argentinische Kongress am 23. Dezember
Rodriguez Saa zum Übergangspräsidenten wählte und gleichzeitig
vorgezogene Präsidentenwahlen für 3. März ausschrieb. Die Amtszeit
des zurückgetretenen De la Rua läuft allerdings erst am 10. Dezember
2003 aus. (APA/dpa/Reuters)