Wien - "Von den zehn Millionen Einwohnern Weißrusslands sind nur 2000 gesellschaftlich aktiv. Und diesen wollen wir eine Chance geben, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren", sagt Natalia Makuschina. Sie ist Journalistin und arbeitet für die Zeitschrift Nowij Wjek (Neues Jahrhundert). Die Redaktion von Nowij Wjek sitzt in Grodno im Westen des Landes. Die Stadt hat rund 320.000 Einwohner. Vor dem Zweiten Weltkrieg war rund die Hälfte der Bevölkerung jüdisch. Heute zählt die Stadt offiziell noch 86 jüdische Bürger. Rund 20.000 Juden sind in den vergangenen Jahrzehnten ausgewandert. Viele von ihnen aber erst nach der Wahl von Alexander Lukaschenko zum Staatspräsidenten im Jahr 1994. Zwei Jahre später löste Lukaschenko das Minsker Parlament auf und ersetzte es durch eine ihm hörige "Volksvertretung". Im September wurde der Autokrat mit großer Mehrheit wiedergewählt. Trotz starker Indizien für Wahlbetrug sagen auch unabhängige Beobachter, dass er breiten Rückhalt im Volk hat. Land zweigeteilt Das Land sei zweigeteilt, sagt Makuschina: Die eine Hälfte der Bevölkerung sei für Lukaschenko, die andere für die Opposition. Politisch weit aktiver aber sei das Lukaschenko-Lager, freilich kräftig gefördert vom Präsidenten: Rund 100.000 politische Aktivisten arbeiteten in Polizei, Armee und Verwaltung für den Staatschef, sieben bis acht "Spezialorganisationen" sicherten dessen Macht ab. Lukaschenko profitiere von der Angst vor Veränderungen, die vor allem in der älteren Generation weit verbreitet sei, sagt die Journalistin, die 20 Jahre beim staatlichen Fernsehen in Grodno gearbeitet hatte, bevor sie zur unabhängigen Presse wechselte. Jetzt gehe es darum, den jungen Weißrussen, von denen immer mehr auswandern, eine Perspektive zu geben. Die Zeitschrift Nowij Wjek soll ihnen als Plattform dienen. Das Startkapital zahlten Makuschina und ihr Profikollege aus eigener Tasche. Den Großteil der Redaktion bilden 18- bis 19-jährige Studenten, journalistisch blutige Laien. Dreimal ist Nowij Wjek bisher erschienen, zuletzt kurz vor den Präsidentenwahlen im September. Diese Ausgabe wurde in Polen gedruckt. Nach ihrem Erscheinen ordnete ein Gericht die Sperrung der Konten an. Eine gesetzliche Handhabe dafür gibt es nicht. Denn nach dem geltenden Pressegesetz müsse Nowij Wjek offiziell registriert werden, sagt Makuschina. "Verleumdung des Präsidenten" Noch schlimmer als dem "Neuen Jahrhundert" ist es der ebenfalls in Grodno herausgegebenen Zeitung Pagonja ergangen. Am 5. September, vier Tage vor der Präsidentenwahl, wurde die gesamte Auflage der Wahl-Spezialausgabe, 88.000 Exemplare, zerstört. Die Polizei beschlagnahmte alle technischen Geräte. Nach einer Solidaritätsdemonstration in Grodno wurde der Chefredakteur vorübergehend festgenommen. Inzwischen ist die Zeitung wegen "Verleumdung des Präsidenten" geschlossen worden. Die Journalisten geben aber nicht auf. Jeden Donnerstag erscheint eine neue Internetausgabe, allerdings nur auf Russisch. Offiziell handelt es sich um die Onlineversion der zweiten unabhängigen (Wochen-)Zeitung von Grodno, Birscha Informacij (Informationsbörse), die sozusagen Makuschinas ökonomisches Standbein ist. Das Kontrastprogramm liefert die Regierungszeitung, die "Wahrheit" (Grodnjenskaja Prawda) heißt. Die Wahrheit lässt sich auf täglich vier Seiten, davon zwei für Fernsehprogramm und Inserate, zusammenfassen. Für ihr Engagement sieht Natalia Makuschina eine eher längerfristige Perspektive: "Unsere Generation ist schon verloren. Aber für die Jungen gibt es Hoffnung. Wir brauchen sie nicht politisch zu erziehen, sondern müssen ihnen die Möglichkeit geben, sich auszudrücken." (DER STANDARD, Printausgabe, 4.1.2002)