Krimi, Science-Fiction, Cyberpunk - die abgründigen, vielschichtigen Romane des Maurice Dantec zählen zu den interessantesten Werken der französischen Gegenwartsliteratur. Im deutschen Sprachraum gilt es den bisher unübersetzten Autor erst zu entdecken.Maurice G. Dantec schreibt keine gewöhnlichen Krimis, keine gewöhnlichen Science-Fiction-Romane. Der 1959 in Grenoble geborene, in der Pariser Banlieue aufgewachsene Autor mixt Formen und Inhalte, archaisches und digitales Denken, Popkultur und Metaphysik. Er wehrt sich gegen Etikettierungen, aber das Schlagwort "Cyberpunk" trifft schon etwas von dem, was er fabriziert. Oder das Modewort "Hybridisierung". Bisher hat Dantec in Frankreich fünf Bücher veröffentlicht, alle um die 600 Seiten stark, dem internationalen Buchmarkt wohl deshalb nicht aufgefallen, weil sie "nur" in den Krimireihen von Gallimard erschienen sind. Eine der Jüngsten Publikationen Dantecs nennt sich im Untertitel Journal métaphysique et polémique und ist das Tagebuch eines zu Ende gehenden Jahrhunderts, samt Reflexionen über die mögliche Gestalt des bevorstehenden. Polemos heißt ursprünglich Krieg, heute bezeichnet das Wort den Wettstreit der Worte. Diesen Streit sucht Dantec voll Enthusiasmus, zugleich aber drückt sich in seiner literarischen Rage die Überzeugung aus, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Dantec beobachtet und analysiert bewaffnete Konflikte, von den gegenwärtigen bis zu jenen, die das römische Imperium führte. Dantec ist der felsenfesten Überzeugung, dass nicht nur das Abendland, sondern die Menschheit am Ende ist, und dass sich das, was danach kommt, nur aus gewaltigen Zusammenbrüchen herausschälen kann. Was danach kommt ... Nietzsche, Dantecs Lieblingsphilosoph, verkündete einst den Übermenschen; Dantec wirft den Begriff des Posthumanismus in die Debatte. Die Spekulationen Nietzsches werden heute mit anderen - technologischen, biologischen - Mitteln in Realitäten umgesetzt, und die Literatur hat begonnen, auf diese Vorgänge zu reagieren. Auch Michel Houellebecq, ein früher Weggefährte Dantecs und der einzige europäische Gegenwartsautor, der im Journal métaphysique et polémique positiv erwähnt wird, hat sich die Überwindung des Menschen und die Kritik des zeitgenössischen Nihilismus zum Programm gemacht. Neben Nietzsche gibt es noch einen zweiten Philosophen, auf dessen Konzepte sich Dantec stützt. Gilles Deleuze hat in den Siebzigerjahren zusammen mit dem Psychiater und Schriftsteller Félix Guattari eine Art Schizo-Theorie entwickelt, die die Erfahrungen der Schizophrenen nicht nur beschreibt, sondern für die Zukunftsphilosophie fruchtbar zu machen sucht. Multiple Persönlichkeit, ungebundene Energieströme, organlose Körper - mit diesen Begriffserfindungen, die zuweilen an Science-Fiction grenzen, schuf Deleuze eine virtuelle Welt, die sich junge Leser auf der Suche nach "dem Neuen" aneigneten. So auch Dantec. In seinen drei Romanen stehen schizophrene Figuren im Zentrum, in Les racines du mal ("Die Wurzeln des Übels") ist es ein Serienmörder, im 1999 erschienen SF-Kriegsroman Babylon Babies , dem bislang ausgereiftesten Produkt aus Dantecs Labor, eine weibliche Schizophrene namens Marie Zorn, die durch ihren Namen sowohl auf die Rage des Autors als auch auf die Jungfrau Maria verweist. Dantec plädiert zu allem Überfluss noch für eine neue Christologie.
Barocke Unordnung
In der Schizophrenie Marie Zorns liegen ungeheure Möglichkeiten. Zwei Ärzte erkennen, dass die Krankheit nicht geheilt, sondern gestärkt und entwickelt werden muss. Der Schizophrene ist der Vorläufer der Neuromatrix, mit anderen Worten, des neuen Menschen, der mithilfe diversester Technologien (die Dantec nicht ohne Detailfreude beschreibt) das enge Korsett von Raum und Zeit und Identität zu sprengen vermag, um endlich das Universum zu kolonisieren. Marie trägt in ihrem Bauch die kosmischen Zwillinge, Sara und Iewa (klingt vertraut, nicht?), zwei geklonte Wesen, die mit der Muttermilch auch Maries neuronalen Chaosmos aufnehmen. Zur unbefleckten Empfängnis braucht man schon heute keinen Heiligen Geist. Um diesen technometaphysischen Kern herum lässt Dantec die Mäander seines Romans plätschern. Weitläufig, komplex, bisweilen unübersichtlich, aber letztlich ganz einfach: Verfolgungsjagden und Bandenkriege, am Ende siegt das Gute, oder besser gesagt, das Neue. Dantec spricht von einer "barocken Unordnung", und er grenzt sich damit gegen eine literarische Strömung ab, die in Frankreich in den Achtzigerjahren dominierend wurde: gegen den kühlen Minimalismus, wie ihn die Editions de Minuit pflegen. Dantec erzählt mit großem Aufwand, er scheut das Pathos nicht, setzt sich dem Vorwurf des "Cyberkitsch" aus, geht Risiken ein. Auch das Risiko, sich allenthalben Feinde zu machen. Was ihm nicht recht gelingen will, denn so gern Dantec provoziert, so selten lassen sich die Befehdeten auf Diskussionen ein. Am Ende wird ihm zugestanden, trotz aller Exzesse "einer der originellsten Autoren seiner Generation" (Le Monde) zu sein. Es scheint, dass Dantec gerade in seinem Willen zum Unzeitgemäßen zeitgemäß ist. Sein metaphysisch-polemisches Journal ist voller Minen wie dieser: "Fünf Skinheads vergewaltigen eine junge Frau aus Sri Lanka. Rassistisches Verbrechen. - Fünf Zulu-Brüder vergewaltigen eine junge Weiße. Soziales Drama der Vorstädte." Das klingt böse, aber ... hat er nicht Recht? (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 1. 2002)