"War Against People" ist ein weiterer Beitrag des bekannten amerikanischen Linguisten und kritischen Intellektuellen Noam Chomsky zur Aufarbeitung des politischen Vokabulars der Gegenwart. "Schurkenstaaten" (der Originaltitel Rogue States. The Rule of Force in World Affairs ist direkter) sind in der geläufigen politischen Rhetorik jene Staaten, die außerhalb der von der internationalen Gemeinschaft getragenen Gesetzmäßigkeit stehen und deren diplomatisch nicht kontrollierbare Politik mafiösen Charakter trägt. Neben dem Irak und Libyen wurden dazu häufig Nordkorea und Kuba gezählt, aber auch andere Länder, die sich nicht in die neue Weltordnung nach 1989 eingliedern wollten oder konnten. Chomskys durchaus vorhersehbare Kritik verkehrt die Zielrichtung dieser Rhetorik nun in ihr Gegenteil. Anhand von Verletzungen internationaler Verträge durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten (darunter der "treue Jagdhund Großbritannien") versucht er nachzuweisen, dass "lawlessness" nicht bloß bei den "Schurkenstaaten", sondern auch bei ihren häufig so respektabel auftretenden Gegnern zu finden sei, diese also die eigentlichen Schurken seien. Die Vereinigten Staaten machen nach Chomskys Analyse seit 1989 häufig nicht einmal mehr den Versuch, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Vielmehr sei die "rule of force" oder, wie es mehrmals in heißt, die "Kultur der Grausamkeit" ohne ideologische Abfederung zu beobachten. Chomsky, offenbar ein obsessiver und dabei höchst kritischer Zeitungsleser, verblüfft wie immer durch seine Informiertheit, sowohl was das große Bild anbelangt als auch die Details. Seine Untersuchungen (das Buch ist eher eine Sammlung von teilweise überlappenden Essays denn ein wohlstrukturiertes Ganzes) bedienen sich ausschließlich allgemein zugänglicher Informationen und dennoch glaubt man nach der Lektüre, privilegierten Zugang zu geheimdienstlichen Materialien erhalten zu haben. Erst nach einiger Zeit merkt man, dass dieser Denker nicht so sehr exklusive Datenbanken anzuzapfen vermag, sondern konsequent gegen Denkverbote, die wir überall um uns errichtet haben, verstößt. Das Bild der Vereinigten Staaten um die Jahrtausendwende und Chomskys souveräner globaler Blick - historisch und geographisch - sind in dieser ideologiekritischen Fokussierung einzigartig. Das Buch ist in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000 erschienen und erwähnt Afghanistan mit keinem Wort. Trotzdem erscheint es wie ein Kommentar zu diesem Konflikt. Chomsky hat zum 11. September eindeutig Stellung bezogen und den Terror nicht nur beklagt, sondern aus prinzipiellen Gründen verurteilt. Auch scheint er die Urheberschaft nicht in Frage zu stellen. Was er in War against People kritisiert und was genauso auf Bin Laden zutrifft, ist eine Zickzackpolitik des "Westens", die immer demselben Modell zu folgen scheint. Ehemalige Freunde (Saddam Hussein war genauso ein Verbündeter wie vormals die afghanischen muslimischen Befreiungskämpfer im Kampf gegen die UdSSR) werden zu feindlichen Geistern, die, nachdem man sie gerufen, also militärisch und politisch hochgepäppelt hat, nicht mehr los wird. Nach dieser Logik wäre auch das Talibanproblem zumindest teilweise hausgemacht. Für Europäer sind die Aussichten düster, denn Chomsky stellt fest, dass es in der Welt gegenwärtig keine Kraft gibt, die der "letzten Supermacht" Einhalt gebieten könne. Dies sei allein inneren Kräften, dem intellektuellen Establishment der USA, das die öffentliche Meinung und damit die Politik der Regierung mitbestimme, möglich. Für diese "Liberalen", aber auch für politisch Unentschlossene ist dieses Buch geschrieben; sie werden nicht nur mit ätzender Kritik versehen, sondern auch als Hoffnungsträger apostrophiert: "Die Entscheidungen können widerrufen, die Institutionen verändert werden. Sollte es sich als notwendig erweisen, können sie zerschlagen und ersetzt werden. Das haben aufrechte und mutige Menschen im Lauf der Geschichte immer wieder vollbracht." Chomskys Hoffnung ist angesichts der Rolle der U.S.-amerikanischen Intellektuellen in der Vergangenheit (etwa im Vietnamkrieg) vielleicht nicht ganz unrealistisch, auch wenn die Voraussetzungen für eine solche Opposition dafür angesichts des Schocks vom September verständlicherweise gegenwärtig nicht gegeben sind. Europäer, zumal deutschsprachige, tendieren dazu, Bücher wie War Against People oder Chomskys gerade neu aufgelegtes Standardwerk Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur Neuen Weltordnung (Erstauflage 1993) selbstgefällig als Beweis für die Überlegenheit einer vermeintlich kultivierteren europäischen Politik zu lesen. Damit jedoch missversteht man diesen Vertreter der klassischen Werte amerikanischer Bürgerlichkeit gründlich. Erstens spricht aus jedem seiner Kritikpunkte die Sehnsucht nach Einlösung der Grundversprechen der amerikanischen Demokratie. Zweitens ist, gerade in Wirtschaft und Gewalt, sein Blick vor allem auf die Entwicklungsländer und den ein halbes Jahrtausend alten Kolonialismus bzw. Neokolonialismus gerichtet. An deren Problemen haben die Europäer mindestens ebenso viel Anteil wie die U.S.-Amerikaner. Chomskys Ethos der globalen Verantwortung eignet sich nicht für America-bashing. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. 1. 2002)