"Das gute Leben"
Cover-Motiv

Foto: Hanser
Fred Wander, einer der bedeutendsten jüdischen Erzähler nach der Schoah, wurde heute vor 85 Jahren in Wien geboren. Das gute Leben (1996) nannte er seine Autobiografie - mit jener Ironie, die durch Benignis Film La vita è bella (1998) berühmt wurde. Aus einer armen Wiener Familie stammend, die Vorfahren kamen aus dem Ostjudentum, waren die Stationen seines "guten Lebens" die Stationen des Schicksals Tausender anderer Juden im letzten Jahrhundert: Exil in Frankreich, Internierung bei Kriegsbeginn, vergeblicher Fluchtversuch in die Schweiz, an der Grenze von den Schweizer Behörden an die Gestapo ausgeliefert, nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald verlegt. Er überlebte und kehrte nach der Befreiung nach Wien zurück, wo er, Fred Rosenblatt, den Namen "Wander" annahm - das Grundmotiv seiner Heimatlosigkeit. 1958 ging er mit seiner Frau Maxie Wander in die DDR. Bei einem Unfall verloren sie ihre Tochter Kitty, Maxie starb 1977 an Krebs. Ihre Tagebücher und Briefe, von Fred Wander herausgegeben, wurden berühmt. 1983 ging er wieder zurück nach Wien, wo er seither lebt, von der literarischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, einer, den man einmal nach seinem Tod entdecken wird, um ihn jenem kulturellen Erbe Österreichs zuzuschlagen, mit dem man im Ausland großtut. Das Nichtdazugehören als Grundmotiv seines Lebens scheint auch für sein Werk zu gelten. Schon der Titel seines ersten Romans, Der siebente Brunnen (1971), war dazu angetan, zwischen die Fronten zu geraten. Der siebente Brunnen, das erinnerte an den Widerstandsroman von Anna Seghers - Das siebte Kreuz - und an die chassidische Brunnen-Erzählung des Rabbi Löw als Roman-Motto. Das Buch passte so weder ganz in die eine noch in die andere Tradition, während doch seine schwer zu überschätzende Bedeutung gerade in der Engführung von "Judentum als Erinnerung und Widerstand" (Robert Schindel) liegt. Im Zentrum seines nächsten Buchs, Ein Zimmer in Paris (1976), stand die Erfahrung, nach Auschwitz keine Heimat mehr finden zu können, auch Paris, das befreiende Erlebnis der Jugend, nur mehr "Etappe, Durchgangsstadium, Purgatorium" - das alte jüdische Thema des Exils, in den Raum des Post-Holocaust verlegt. Wanders letzter Roman, Hotel Baalbek (1991), beschwört noch einmal die vielfältigen sozialen und kulturellen Lebensformen, Sprachen und Stimmen der Welt des europäischen Judentums herauf. Der erzählte Ort des Romans ist Marseille; Zeit: die letzten Monate vor der doch noch geglückten Ausreise oder vor der Deportation in die Vernichtungslager. Ein letzter Ort vor dem "völligen Verstummen im Entsetzen", das der Erzähler dann auf dem Transport nach Auschwitz erleben wird. Erzählen, das war schon in Der siebente Brunnen die Erinnerung der lebendigen Rede, der Vielfalt der Sprachen und Sprechweisen bis hin zur stummen Sprache der Mienen, Blicke und Gebärden, jenes ungeheure Spektrum der Manifestationen des Lebenstriebs am Rande der Ohnmacht und des endgültigen Verstummens im Tod. Das sonst so sprachbewusste zeitgenössische kulturelle Bewusstsein hat dieses Werk noch nicht entdeckt. Es ist ein einzigartiges plebejisches Hohes Lied auf jene erst im Tod endgültig verstummende Sprache des Lebens, eine ungewöhnliche epische Recherche der ermordeten Stimmen des verschwundenen europäischen Judentums. Wanders Bücher sind für mich das epische Pendant zu Jean Amerys Bewältigungsversuchen eines Überwältigten, aber sie sind auch in vielem verwandt mit Ilse Aichingers und Paul Celans Werk. Erzählen als ein Reden unter dem Galgen (Ilse Aichinger), für wen träfe diese Bestimmung mehr zu als für Wander, der im Bewusstsein des Endes erzählt? Und wie Celan, nur auf der Ebene des Erzählens, hat Wander, ausgehend vom Traditionsbruch, den Auschwitz bedeutet, die Tradition der revolutionären Emanzipation und der erhellenden Mystik im Judentum neu zu verbinden versucht. Bis ins Wort entspricht die chassidische Hermetik der Erzählung des siebenten Brunnens bei Wander dem geschichtsbewussten hermetischen Sprechen in Celans Lyrik - "Es ist Zeit", Fred Wanders Werk auch in dieser Konstellation neu zu entdecken. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. 1. 2002)