Wien - Gerichtsurteile sind bekanntlich nur so gut, wie ihre Durchsetzung funktioniert. Gerade in diesem Zusammenhang sorgt derzeit die Kontroverse um das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) zur "Ortstafelregelung" für Aufsehen. Es stellt sich somit die Frage nach der Güte und somit Exekution der Erkenntnisse des VfGH - und damit nach ihren praktischen Folgen.Die Verfassung bestimmt dazu - recht dramatisch -, dass der Vollzug der meisten Erkenntnisse dem Bundespräsidenten obliegt, der sich dabei derjenigen Organe des Bundes oder der Länder, die nach seinem Ermessen für diese Aufgabe geeignet sind, zu bedienen hat - einschließlich des Bundesheeres. Ein Szenario, in dem Soldaten beginnen, Ortstafeln in Kärnten aufzustellen, scheint vor diesem rechtlichen Hintergrund zumindest nicht völlig absurd. Die juristische Realität sieht allerdings etwas grauer aus, als die Textierung der Verfassung es vermuten lässt. Tatsächlich greifen nämlich die meisten Erkenntnisse des VfGH selbst direkt in die Rechtslage ein, bedürfen also keiner weiteren Umsetzung. Dies gilt insbesondere für den wichtigen Bereich der Aufhebung von Gesetzesbestimmungen als verfassungswidrig, zu denen auch das Ortstafelerkenntnis gehört: Die Aufhebung tritt automatisch mit der Kundmachung des Erkenntnisses ein. Die Besonderheit hierbei ist aber, dass die Pflicht zur unverzüglichen Kundmachung sehr wohl exekutierbar ist. Wirtschaftliche Implikationen Dies ist von Bedeutung, weil eine solche Aufhebung meistens weitreichende wirtschaftliche Implikationen hat, und die alte - verfassungswidrige - Lage auf alle Tatbestände, die vor der Kundmachung verwirklicht werden, anzuwenden ist. Dies gilt nur nicht für so genannte "Anlassfälle" - das sind neben der Beschwerde, die zum Gesetzesprüfungsverfahren geführt hat, auch solche Beschwerden, die beim VfGH in derselben Sache zum Zeitpunkt des Beginns der mündlichen Verhandlung anhängig sind. Verzögerungen im Steuerrecht Vor allem im Steuerrecht ist der Effekt einer verzögerten Kundmachung sehr deutlich zu bemerken und zu spüren: Wird eine gewisse Abgabe für verfassungswidrig judiziert, kann der Bund durch eine Uminterpretation des Begriffs "unverzüglich" noch viel Geld einstreifen. Bis zur Kundmachung würden nämlich sehr wahrscheinlich noch einige steuerbare Tatbestände gesetzt werden, die noch nach der verfassungswidrigen Lage zu beurteilen wären und daher dem Bund Geld brächten. Auch im Vergaberecht, dem ständigen Sorgenkind der Verfassungsgerichtsbarkeit, sind solche Effekte beobachtbar: Hier wird vom VfGH judiziert, dass die Kontrollämter (sofern es sich nicht um Unabhängige Verwaltungssenate handelt) nicht die Vergabeentscheidungen des Bundes oder der Länder überprüfen können, solche Entscheidungen daher nicht dem Vergaberegime unterliegen. Ob beispielsweise das Bundesvergabegesetz auf Ausschreibungen des Bundes anzuwenden ist, stellt aber eine bedeutende Frage dar, die nicht zuletzt - beim Rechtsschutz nämlich - konkret Geld bedeutet. Bedenkt man all dies, kann es niemanden weiter erstaunen, wenn die Kundmachung eines Erkenntnisses des VfGH über einen Monat auf sich warten lässt - obwohl sie keinerlei legistischer Vorarbeit bedarf und in der Regel weniger als zehn Zeilen lang ist. Dies geschieht wohlgemerkt in Zeiten, in denen ein Bundesgesetz in Kraft tritt, noch bevor das Bundesgesetzblatt ausgeliefert wurde. Mit administrativen Problemen ist das also nicht zu erklären, sondern allein mit Taktik. Politische Realität Also rasch das Bundesheer zum Bundeskanzler schicken? Egal, wie der Vollzug eines VfGH-Erkenntnisses konkret aussehen könnte: Der politisch versierte Leser wird schon erkannt haben, dass ein Vollzug faktisch nie durchgeführt werden würde. Dass der VfGH nämlich beim Bundespräsidenten beantragt, den Bundeskanzler zur Kundmachung zu zwingen, ist ein Vorgehen, das in der politischen Landschaft Österreichs (derzeit) unvorstellbar ist. (DER STANDARD, Printausgabe 8.1.2002)