In den 1990er-Jahren, als Finanzkrisen weltweit die "Emerging" in "Emergency Markets" verwandelten, galt Argentinien als Musterschüler des IWF: Wirtschaftswachstum von vier Prozent jährlich, stabile Währung, keine Inflation, Exportwachstum und ein Boom ausländischer Direktinvestitionen hielten den Glauben an Globalisierungsgewinner wach. Dennoch kommt der Zusammenbruch nicht überraschend. Das Wirtschaftswachstum hatte sich kontinuierlich abgeschwächt, um seit 1999 im Minus zu liegen; die Verschuldung stieg ständig; die Zunahme der Importe übertraf mit 535 Prozent (1991-1999) das Exportwachstum (+85 %) bei weitem; die Handelsbilanz geriet als Folge davon ins Minus; der reale Zinssatz stieg und stieg. All dies weist auf strukturelle Probleme hin, die sich nicht mit Misswirtschaft erklären lassen. Vielmehr enthüllt Argentiniens Krise ein grundsätzliches Dilemma, in das die Länder Lateinamerikas geraten sind. Der Globalisierung sind nämlich Widersprüche inhärent, die direkt aus den neoliberalen Dogmen Geldwertstabilität, Anwerben von Auslandsinvestitionen und Exportproduktion folgen. Peso überbewertet Argentinien wurde von der Finanzwelt beklatscht, als es seinen Peso im Verhältnis 1:1 an den US-Dollar band. Schließlich wurde damit ein zentrales Interesse ausländischer Investoren befriedigt, die sich einer Abwertung mit aller Kraft widersetzen, weil diese ihre Anlagen schmälern würde. Die argentinische Währungspolitik begünstigte also den Zufluss ausländischen Kapitals. Zugleich aber hatte sie letale Auswirkungen auf die Produktion. Die neoliberalen Hohepriester negierten nämlich, dass die Dollar-Peso-Parität nicht den realen ökonomischen Verhältnissen entsprach, der Peso also klar überbewertet war. Diese Überbewertung unterminierte die argentinische Wirtschaft von zwei Seiten. Erstens verteuerte sie die Exporte empfindlich, was dazu führte, dass ab Mitte der 1990er-Jahre die Wachstumsraten kontinuierlich abnahmen und 1999 der Exportboom zusammenbrach. Zweitens wurden die Importe durch die Überbewertung billiger, was ihr schnelles Wachstum begünstigte. Keine Investitionen Die Folgen waren eine notorisch negative Handelsbilanz und die Verdrängung nationaler Produkte durch Einfuhren. Anders ausgedrückt: Schwache Exporterfolge und gleichzeitige Importpenetration würgten die argentinische Wirtschaft ab. Um den durch die negative Handelsbilanz verursachten ständigen Kapitalabfluss auszugleichen, wurde das Bemühen um ausländisches Kapital verstärkt. Der dazu erforderliche hohe Zinssatz aber verstärkte den Druck auf die argentinischen Unternehmen, die zwischen zwölf (für Großbetriebe) und 30 Prozent (für Kleinbetriebe) an Kreditzinsen zu zahlen hatten. Produktive Investitionen wurden dadurch verhindert, was auch der Economist bemerkte, um dann hinzuzufügen: "But remember those nervous global financiers." Genau hier liegt das Problem: Die durch das Lechzen nach ausländischem Kapital hochgetriebenen Zinsen dreh(t)en wirtschaftliche Impulse ab und ebneten so den Weg zur Rezession. Fazit: Die neoliberale Orthodoxie führte Argentinien in einen Teufelskreis aus Überbewertung, Exportschwäche, Importpenetration und hohen Zinsen. Das Erlahmen der Wirtschaft folgte auf dem Fuß, die Unfähigkeit, den Schuldendienst zu bedienen, ebenfalls. Die von den neoliberalen Glaubenslehrern in Washington und Buenos Aires ignorierten Interessenkonflikte zwischen Finanzkapital, Exportindustrien und Binnenwirtschaft brechen heute auf, ohne aber dass die so genannten Experten, die Argentinien noch vor kurzer Zeit "geraten" haben, die Dollarparität beizubehalten, zur Verantwortung gezogen werden. Den Preis zahlen die Argentinier - ob Mittel- oder Unterschicht: Die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten 20 Jahren versechsfacht, die realen Löhne sind im selben Zeitraum um ein Viertel gefallen, und die Armut steigt so schnell, dass Daten aus dem Jahr 2001 veraltet sind. Lawineneffekt droht Was die Lage noch brisanter macht, ist, dass der Widerspruch, an dem Argentinien zerbricht, weitere Länder Lateinamerikas in die Tiefe reißen wird. Brasilien, Mexiko oder Uruguay leiden an vergleichbaren strukturellen Problemen, und nur eine Neuorientierung kann weitere Crashs verhindern. Ein Umdenken fordert selbst die Financial Times - bekanntlich nicht das Zentralorgan der Globalisierungskritiker -, die bereits anlässlich der Asienkrise 1998 riet: "The wisdom of over-hasty integration of emerging economies into global financial markets must be reconsidered." (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 8.1.2002)