Frankreich sei "absolut kein antisemitisches Land" und der bloße Gedanke daran "eine scheußliche Idee", meinte Außenminister Hubert Védrine am Wochenende in Antwort auf jüngste Vorwürfe aus jüdischen Kreisen. Vor dem Jahreswechsel war es in größeren Städten des Landes zu Brandanschlägen gegen Synagogen und jüdische Einrichtungen gekommen.Verletzt wurde niemand, doch der Rat der jüdischen Institutionen Frankreichs (Crif) listet zudem Hunderte von Verbal- und anderen Aggressionen zumeist maghrebinischer Jugendlicher gegen jüdische Bürger auf. Innenminister Daniel Vaillant verurteilte die "antisemitischen Akte", stellte aber klar: Deren Zahl habe 2001 mit 30 Gewalttaten und 170 Bedrohungen nur rund ein Drittel jener des Vorjahres betragen. Konsequente Bestrafung Staatspräsident Jacques Chirac forderte bei einem Neujahrsempfang für die Religionsgemeinschaften die konsequente Bestrafung der Täter. Dies genügte aber nicht, um die 600.000 französischen Juden zu beruhigen. Etwa tausend demonstrierten im Pariser Vorort Créteil, wo Unbekannte nachts Molotowcocktails in eine jüdische Privatschule geworfen hatten; zwei Tage später ertappte die Polizei drei Jugendliche, wie sie Steine gegen die örtliche Synagoge warfen. Wie groß die Spannung in der jüdischen Gemeinschaft ist, zeigte ein Zwischenfall bei der Kundgebung. Einer der wenigen anwesenden Politiker, der sozialistische Bürgermeister von Créteil, Laurent Cathala, meinte, man könne "als Freund Israels solidarisch" mit den Demonstrierenden sein, auch wenn man die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon missbillige. Dies ließ die Wogen der Emotion sofort hochgehen, und in der hitzigen Stimmung, die nahezu in ein Handgemenge ausartete, wurde immer wieder der Name Sharons skandiert. Antisemitismus unterschätzt Der Deportierten-Anwalt Serge Klarsfeld meinte zudem, der Antisemitismus in Frankreich werde "unterschätzt". Zuvor hatte der israelische Botschafter in Paris, Elie Barnavi, die aktuelle Lage in der katholischen Zeitung La Croix bereits als "unangenehmste Phase des Antisemitismus seit dem Zweiten Weltkrieg" in Frankreich bezeichnet. Andere Kundgebungsteilnehmer warnten vor einer Dramatisierung der Lage. Die Gewaltakte in den Vorstädten beträfen nicht nur Juden, und man müsse "zweimal überlegen", bevor man das Wort Antisemitismus darauf anwende, meinte der frühere Crif-Präsident Théo Klein, wobei er "Verständnis" für propalästinensische Positionen äußerte. "Koloniale" Politik Noch deutlicher wurde unlängst der israelische Filmregisseur Eyal Sivan: In der Zeitung Le Monde verdammte er die "koloniale" Politik Sharons und erklärte, dessen Gegner würden mit der Antisemitismus-Keule eingeschüchtert. Empörte Zuschriften jüdischer Leser auf einer ganzen Zeitungsseite waren die Folge. Der heutige Crif-Präsident Roger Cukierman, der zwischen den Fronten vermitteln muss, auch wenn er im Unterschied zu seinen Vorgängern weniger Kritik an Sharon übt, spricht heute kaum mehr von "antisemitischen" Aggressionen (siehe Interview). Auch die französischen Medien haben ihre Terminologie geändert und berichten heute über "antijüdische" Gewaltakte. Im vergangenen Herbst hatten sie ebenfalls sehr zurückhaltend berichtet, als Jugendliche nordafrikanischer Herkunft in den Vorstädten "Bin Laden"- Parolen skandierten. Verharmlosung Auch die französischen Behörden, die seit den Achtzigerjahren mehrfach Terrorwellen zu bekämpfen hatten, versuchen ein Übergreifen des Nahostkonliktes in die schwer zu kontrollierenden Vorstädte des eigenen Landes zu vermeiden. Chirac meinte bei dem Neujahrsempfang, man dürfe den Gewaltakten gegen jüdische Einrichtungen kein "zu großes Echo einräumen", ansonsten könnten sie sich "gegen die jüdische Gemeinschaft richten". Einzelne jüdische Stimmen lasten ihm das als Verharmlosung an. Sie verweisen auf englische Zeitungsberichte, wonach der Botschafter Frankreichs in London Israel im trauten Kreis als "kleines Scheißland" bezeichnet habe. Andere klassisch antisemitische Äußerungen wurden in der französischen Politik bisher nicht registriert. Doch während Védrine die französische Nahostpolitik für "strikt neutral" bezeichnet, unterstützen laut einer Umfrage von Mitte Dezember eindeutig weniger Franzosen die israelische Politik als noch vor Jahresfrist. Die Palästinenser zögen heute "das Mitgefühl, wenn nicht die Solidarität" Frankreichs an, resümiert der Kommentator Alain Duhamel, um anzufügen: "Es ist interessant festzustellen, dass sich die öffentliche Meinung Frankreichs diesbezüglich genau umgekehrt entwickelt wie in den USA." (DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2002)