Der Prozess ist gelaufen,
bevor er anfängt. Ein Tiroler Techniker muss bestraft werden. Richter,
Staatsanwalt, Verteidiger,
Schriftführerin, Journalisten, Studenten, Zuhörer -
alle wissen: Der Angeklagte
hat nichts Böses getan. Er
hat sensible Liebesbeziehungen zu jungen Männern
gepflegt. Dafür wird er zu
drei Monaten bedingter
Haft verurteilt."Gesetze sind da, um eingehalten zu werden, das betrifft auch
mich", bedauert Richter
Thomas
Schrammel. - Es gibt eben
kein Gesetz, das gestattet,
sinn- oder würdelose Gesetze nicht zu befolgen.
"Also tauchen wir ein in die
Schwerkriminalität." - Paragraf 209, gleichgeschlechtliche Unzucht mit
Personen unter 18 Jahren.
Den Prozess gab es schon
einmal - vor dem selben
Richter. Ende August hatte
Schrammel von der Möglichkeit der Diversion Gebrauch gemacht. Der Diplomingenieur hätte 20.000
Schilling zahlen müssen, und wäre einer Vorstrafe entgangen. Im Oberlandesgericht
war man dagegen: Der Angeklagte habe "schwere
Schuld auf sich geladen",
hieß es. Eine Verurteilung
nach § 209 sei daher unumgänglich. Nun muss Richter
Schrammel gegen seine
Überzeugung sein eigenes
Urteil korrigieren.
Ein armer Teufel
Seit der Studienzeit fühlt
sich der Tiroler zu jungen
Männern hingezogen. Mit
28 gab er seinem Drängen
nach. Heute ist der Akademiker 37 und hat erst einige
wenige Liebesbeziehungen
gelebt. "Wie viele Freunde
hatten sie?", fragt der Richter: "Vier", erwidert der Tiroler. "Bei Heterosexuellen
würde man sagen - ,ein armer Teufel'", meint
Schrammel.
Die so genannten Opfer
hatten alles freiwillig getan.
Sex war keine Bedingung
und kam nur bei beidseitigem Verlangen
vor. "Viele
Ehemänner
kümmern sich
einen Schmarren darum,
was ihre Frauen wollen",
hält dem der Richter entgegen. "Wie viele derartige
Kontakte hat es denn ungefähr gegeben?", würde er
gerne wissen. "Schwer zu
sagen", erwidert der Tiroler: "Das ist nichts, über das
man Buch führt." -
"Stimmt, das tut man erst
im fortgeschrittenem Alter", bestätigt der Richter.
Anwalt Helmut Graupner
kommt noch einmal auf den
europaweit heftig kritisierten Paragrafen 209 zu sprechen. "Er wird bis zur bitteren Neige zum Teil mit
gnadenloser Härte vollzogen. Das ist beschämend."
Amnesty International
führt den Tiroler übrigens
als "Gewissensgefangenen"
an, nachdem dieser als
"hemmungsloser Triebtäter" zwei Wochen in U-Haft
verbringen musste. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.1.2002)