London - Der von den USA angeführte "Krieg gegen den Terror" wird laut Human Rights Watch (HRW) von repressiven Regimen auf der ganzen Welt zynisch als Entschuldigung dafür benutzt, gewaltsam gegen inneren Widerstand vorzugehen. Der soeben veröffentliche Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation hält fest, dass "in den Tagen nach dem 11. September verschiedene Regierungen versucht haben, im Windschatten dieser Tragödie ihr internes Vorgehen als Kampf gegen den Terrorismus zu maskieren".Namentlich genannt werden unter vielen anderen Russland, das seinen brutalen Krieg in Tschetschenien in diesem Licht erscheinen lassen möchte, und China, das mit dem gleichen Vorwand jegliche politische Meinungsäußerung in der Provinz Xinjiang unterdrückt. Der HRW-Bericht zitiert den ägyptischen Premierminister Atef Abeid, dessen Geheimdienst mit Folter und Militärprozessen gegen die Islamisten vorgeht, mit dem Vorschlag, der Westen solle sich "Ägyptens eigenen Kampf gegen den Terrorismus zum Vorbild nehmen". Der israelische Premier Ariel Sharon habe "mehrmals von Palästinenserpräsident Yassir Arafat als 'unserem Bin Laden' gesprochen". Vorgehen gegen Journalisten Der malaysische Stellvertretende Premier (Deputy Premier) Abdullah Ahman Badawi hat den "Krieg gegen den Terrorismus" als Vorwand genommen, um Verwaltungshaft (administrative detention) im Rahmen des oft missbrauchten Gesetzes zur Inneren Sicherheit (Internal Security Acts) zu rechtfertigen. Hartes Vorgehen gegen unabhängige Journalisten, die über Missstände in der Regierung Simbabwes berichtet hatten, wurde von Präsident Mugabe als Angriff auf die "Unterstützer" des Terrorismus bezeichnet. "Für zu viele Länder hat das Anti-Terror-Mantra einen neuen Vorwand geliefert, die Menschenrechte zu ignorieren", erklärte. HRW-Vorsitzender Kenneth Roth schreibt in dem Bericht: "Terroristen glauben, dass im Namen ihrer Sache alles erlaubt sei. Der Kampf gegen den Terrorismus darf sich keinesfalls diese Logik zu eigen machen." Der 670 Seiten starke HRW-Jahresbericht, der die Entwicklungen in 66 Ländern abdeckt, hält fest, dass die Länder, die den Kampf gegen Osama Bin Ladens al-Qa’ida unterstützen, vor einer grundsätzlichen Wahl stehen: "Sie müssen sich entscheiden, ob dieser Kampf eine Möglichkeit ist, die Menschenrechte zu stärken, oder ein neuer Vorwand, um sie zu ignorieren". Weiter: "Leider hat das Verhalten der Koalition bis jetzt nicht viel Anlass zur Hoffnung gegeben. Die führenden Länder haben die Menschenrechtsprinzipien im eigenen Land verletzt und übersehen Menschenrechtsübertretungen ihrer Partnerländer." HRW fügt hinzu: "Es schaut so aus, als ob der Kampf gegen bestimmte Terroristen gerade deren Instrumentalisiserung der Politik bestätigen würde." Das zentrale "Gegengift" gegen Terrorismus Terrorismus gedeiht in jenem Umfeld, wo den Menschen jegliche Möglichkeit genommen wird, an der Politik teilzuhaben und wo sie keine Chance haben, gegen Übergriffe suspekter Regierungen vorzugehen. Oft aber haben die führenden Mitglieder der Koalition gegen al-Qa’ida "die Menschenrechte nur in der Theorie umarmt, untergraben sie aber in der Praxis". "Besonders im Nahen Osten und in Nordafrika, wo al-Qa’ida besonderen Zulauf erhält", müsse die Politik, die Menschenrechtsverletzungen ermutigt und damit den Terrorismus fördert, revidiert werden, steht im HRW-Bericht. Israel, Saudi-Arabien und der Irak seien gute Beispiele für die Doppelmoral, die der Westen anwende. Das "Versagen des Westens, den israelischen Übergriffen gegen die Palästinenser Einhalt zu gebieten oder die Sanktionen gegen den Irak so zu restrukturieren, dass das Leiden der irakischen Bevölkerung minimiert wird", würde in der Region genau registriert und ließe den Schluss zu, "dass das Eintreten des Westens für Menschenrechte ein sehr beliebiges ist". "Kultur der Menschenrechte" Im Mittelpunkt jeder Kampagne gegen den Terrorismus solle die Förderung einer "Kultur der Menschenrechte" stehen, fordert Human Rights Watch. In einer solchen Kultur wäre der Angriff auf Zivilisten ein Tabu, und Terrorismus würde zur Randerscheinung. Der Bericht hält fest, dass Saudi Arabien, "Heimat von Osama Bin Laden und von 15 der 19 angeblichen Flugzeugentführer", die am 11. September das World Trade Center und das Pentagon angriffen, "strengste Gesetze gegen die Zivilgesellschaft verfügt, Frauen schwerstens diskriminiert und Dissidenten systematisch unterdrückt". Westliche Regierungen "geben sich damit zufrieden, saudisches Öl zu kaufen und sich um Handelsverträge zu bemühen, aber schmählich schweigen zu saudischen Übergriffen". Politische Opposition wird unterdrückt HRW schreibt, dass Ägypten, "Heimatland des Rädelsführers des Angriffs vom 11. September wie auch anderer al-Qa’ida-Schlüsselfiguren, einen eng umschriebenen politischen Freiraum lässt und dass die Regierung alles nur mögliche unternimmt, um friedliche politische Opposition zu unterdrücken". Als "Partner" im Nahost-Friedensprozess aber hat "sich Ägypten massive Hilfe von der US-Regierung gesichert und stillschweigende Billigung seiner Menschenrechtsverletzungen". HRW weist darauf hin, dass repressive Regierungen aus ihrem eigenen System heraus nur gewaltsam gestürzt werden können. Daher "können sie sich glaubhaft als Bollwerk gegen Extremismus darstellen". International Affairs Spezialisten stimmen den Analysen des HRW zu. Rosemary Holis, die das Nahost-Programm des prestigereichen Londoner "Royal Institute of International Affairs" leitet sagt: "HRW hat Recht, wenn es Druck/Elend (=Oppression) und Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Pluralismus in der Meinungsbildung als Nährboden für extreme Elemente anführt." (DER STANDARD, Printausgabe, 16.1.2002)