"Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen." Vor diese Wahl stellte US-Präsident George W. Bush nach dem 11. September alle Regierungen, als er seine weltweite Antiterrorallianz zu schmieden begann. Vier Monate danach liegt eine erste Zwischenbilanz vor. Und sie fällt, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst gemischt aus.

In Afghanistan selbst, wo das totalitäre Taliban-Regime dem Terrornetzwerk Osama Bin Ladens die Hauptoperationsbasis bot, scheint den USA zunächst einmal ein beachtlicher Erfolg gelungen zu sein, und das auch im Interesse der geschundenen Bevölkerung. Ob daraus eine langfristige Stabilisierung der ganzen Region wird, hängt allerdings von Ausmaß und Effizienz der Wiederaufbauhilfe ab, die langen Atem und viel Geld erfordert.

Unklar ist auch die Zahl der zivilen Opfer, die das monatelange Bombardement gefordert hat. Sollten sich die mehr als 4000 oder sogar 5000 Toten bestätigen, die ein US-Experte zuletzt unter Berufung auf das Pentagon genannt hat, muss sich Washington jedenfalls die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel gefallen lassen - zumal ja die mutmaßlichen Hauptdrahtzieher des Terrors noch immer in Freiheit sind.

Heiligt der Zweck die Mittel? Noch viel folgenschwerer als für Afghanistan selbst gilt diese Frage aber für die weltweite Allianz gegen den Terrorismus. In ihrem jetzt veröffentlichten Jahresbericht gibt die in den USA ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) darauf eine klare Antwort. Sie lautet: Nein.

Dem HRW-Bericht zufolge sind die Befürchtungen, die Bush mit seiner Alternative "Für oder gegen uns" ausgelöst hat, weitgehend eingetreten: Im Windschatten der US-geführten Antiterrorallianz gehen weltweit mehr oder weniger repressive Regime noch ungenierter gegen inneren Widerstand vor. Die Verfolgung von Dissidenten und Oppositionellen kann ja nun noch viel bequemer als "Kampf gegen den Terrorismus" ausgegeben werden. Wer sich der Antiterrorallianz angeschlossen hat, darf zumindest auf Verständnis, wenn nicht sogar tätige Hilfe Washingtons zählen.

Damit ist der paradoxe Fall eingetreten, dass ein "weltweiter Angriff auf die Menschenrechte" (Human Rights Watch) zumindest mit stillschweigender Duldung jenes Landes stattfindet, das als Wiege der Menschenrechte gilt. Oder, wie Kenneth Roth, der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation, es ausdrückt: "Terroristen glauben, dass im Namen ihrer Sache alles erlaubt sei. Der Kampf gegen den Terror darf sich nicht diese Logik zu eigen machen." Tun sie es dennoch, dann sind die Verfechter dieses Kampfes den Terroristen in die Falle gegangen, indem sie selbst deren Geschäft besorgen.

Ob man nun grundsätzlich-moralisch oder "nur" logisch-vernünftig und nach Nützlichkeitserwägungen argumentiert, das Resultat bleibt dasselbe: Diese "Philosophie" der Terrorismusbekämpfung ist schlicht kontraproduktiv, weil sie selbst den Nährboden für neuen Terror schafft.

Als schlagenden Beweis dafür nennt der HWR-Bericht die Heimat Bin Ladens: Saudi-Arabien. Dessen Regime "schränkt die Zivilgesellschaft scharf ein, diskriminiert Frauen schwer und unterdrückt Widerspruch systematisch", während westliche Regierungen "sich damit zufrieden geben, saudisches Öl zu kaufen, und schamhaft zu den Übergriffen schweigen". Zur Erinnerung: 15 der 19 mutmaßlichen Flugzeugterroristen des 11. September kamen aus Saudi-Arabien.

Staaten haben bekanntlich keine Freunde, sondern Interessen. Eben deshalb sollten sich die USA ihre alten und neuen Verbündeten genauer ansehen.

Denn wenn Moral schon keine politische Kategorie ist: Eine Preisgabe der Menschenrechte im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus muss sich allein nach den Gesetzen der Logik rächen. Und diese Gesetze gelten auch für eine Supermacht. (DerStandard,Print-Ausgabe,16.1.2002)