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Die Zeiten haben sich geändert in Russland. Die Zugehörigkeit zur "Familie", wie der Klüngel um den ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin genannt wurde, bietet heute keine Sicherheit mehr vor unbequemen Fragen. Ganz im Gegenteil: Obwohl sicherlich in allen politischen Gruppierungen Leute zu finden wären, die sich des Amtsmissbrauchs und der Korruption schuldig gemacht haben, nimmt die Generalstaatsanwaltschaft nur die Jelzin-Leute ins Visier, die bisher noch in Amt und Würde verblieben sind. "Bitte" aus der Duma Jüngstes Opfer der Kampagne ist die graue Eminenz im Kreml: der einflussreiche Chef der Präsidialverwaltung, Alexander Woloschin. Laut offiziellen Angaben geht die Untersuchung, die in ein Strafverfahren münden kann, auf die Bitte einiger Mitglieder der Duma, des Parlaments-Unterhauses, zurück, die Vergangenheit Woloschins in der Privatwirtschaft unter die Lupe zu nehmen. Russischen Medienberichten zufolge hat Woloschin vor seiner Zeit im Kreml zusammen mit dem Oligarchen Nummer eins der Jelzin-Zeit, Boris Beresowski, mehrere Sparpyramiden betrieben. Die einschlägigen Firmen sollen einige Millionen Dollar eingesteckt haben. Nicht das letzte Ziel Woloschin ist nicht der erste Mann der alten Garde, der in den vergangenen Wochen unter Druck geraten ist. Zu Jahresbeginn wurde Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko, auch er ein Jelzin- Mann und Beresowski- Freund, aus dem Amt genötigt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit Monaten wegen Amtsmissbrauchs gegen Aksjonenko. Manche Beobachter glauben, dass Woloschin auch nicht das letzte Ziel der Generalstaatsanwaltschaft sein wird. Sie schließen nicht aus, dass Premierminister Michail Kasjanow, der ebenfalls zur Jelzin-Clique gehört hat, der Nächste sein könnte - dies vor allem, sollte sich die derzeit erfreuliche Wirtschaftsentwicklung verschlechtern. Dass Präsident Wladimir Putin mächtige Jelzin-Gefolgsleute ersetzt oder wenigstens ihren Einfluss beschneiden will, ist logisch. Erstaunlich ist eher, dass es so lange gedauert hat; schließlich ist Putin faktisch seit zwei Jahren im Amt. Doch der neue Kreml-Chef, der von Jelzin als Sachwalter der "Familie" betrachtet worden war, ist den Aufbau einer eigenen Hausmacht langsam angegangen. Dünne Personaldecke Probleme gibt es damit gleichwohl. Denn Entlassungen ziehen die heikle Frage nach sich, wer die frei gewordenen Posten besetzten soll. Putins neue Mannschaft stammt vor allem aus dem Geheimdienst und, was vor allem für politische Kreise in Moskau weit schlimmer ist, aus St. Petersburg. Doch viele von ihnen sind politisch unerfahren. Es ist für Putin schwierig, loyale Leute zu finden, die auch das Format haben, Schlüsselpositionen im Land zu besetzen. Der Präsident versucht deshalb, weniger prominente Politiker aus der Zeit Jelzins auf seine Seite zu ziehen: Der neue Eisenbahnminister Gennadi Fadejew etwa hatte diesen Posten bereits einmal unter Boris Jelzin inne. Insofern ist die Umbesetzung weit weniger spektakulär als etwa jene an der Spitze des Energiekonzerns Gasprom. Dort hievte Putin vergangenes Jahr den bis dahin unbekannten Alexej Miller auf den Chefsessel. Seither ist offenbar auch bei Gasprom, einst ein Staat im Staat, vieles nicht mehr, wie es einmal war: In den vergangenen Tagen wurden mehrere hohe Gasprom-Manager zu Befragungen in die Generalstaatsanwaltschaft bestellt. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2002)