Tübingen - Wahrnehmen will gelernt sein. Der Mensch erkennt
seine Umwelt und macht Erfahrungen. Diese Erfahrungen bestimmen dann
die weitere Wahrnehmung. Den entscheidenden Faktor dabei dürfte die
"Arbeit" einzelner Nervenzellen im Gehirn, nicht jene von ganzen
Gehirnregionen sein. Das haben Tübinger Wissenschafter um Univ.-Prof.
Dr. Nikos Logothetis jetzt in der britischen Wissenschaftszeitschrift
"Nature" publiziert. Die Fachleute am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
konnten jetzt erstmals experimentell nachweisen, dass einzelne
Nervenzellen im Gehirn für die Steuerung der Wahrnehmung durch
Vorwissen verantwortlich sind. Wie der Mensch Objekte wahrnimmt,
hängt von den Erfahrungen ab, die bereits gemacht wurden. Was für
eine Person nichts anderes als ein "Vogel" ist, ist für den Kenner
ganz offensichtlich eine Amsel, eine Drossel, ein Fink oder ein Star.
Das Fachwissen schärft die Fähigkeit, auf Details zu achten.
Zusätzliches Wissen lässt auch mehr Details erkennen.
Tests mit Rhesusaffen
Die Forscher brachten einigen Rhesusaffen bei, Objekte nach
bestimmten Eigenschaften einzelnen Kategorien zuzuordnen. Affen sind
Meister bei einer Vielzahl visueller Unterscheidungsaufgaben, ihr
Gehirn funktioniert beim Sehen sehr ähnlich wie das des Menschen.
Waren nun die Tübinger Rhesusaffen bei der "Arbeit", beobachteten
die Wissenschafter die Aktivität von Neuronen in einem ganz
speziellen Gehirnbereich, dem "inferior temporal cortex"(ITC), von
dem man heute weiß, dass er für die Objekterkennung zuständig ist.
Die Grundfrage der Forscher lautete: Wie wirkt sich nun ein
spezielles Trainingsprogramm zur Kategorisierung von Objekten darauf
aus, wie diese konkret im Gehirn repräsentiert werden?
Dazu zeigten die Forscher den Affen hintereinander eine Serie von
Strichzeichnungen mit Gesichtern (oder anderen Objekten wie Fischen)
auf einem Computerbildschirm. Die Gesichter beispielsweise bestanden
aus dem Umriss des Kopfes und insgesamt vier variablen Merkmalen: der
Höhe der Augen, dem Augenabstand, der Länge der Nase und der Höhe des
Mundes. Jedes dieser Merkmale konnte in drei verschiedenen Varianten
vorliegen; die Nase konnte also beispielsweise kurz, mittellang oder
lang sein.
Training
Die Affen wurden schließlich darauf trainiert, zwei Arten von
Gesichtern zu unterscheiden: In der einen Kategorie hatten alle
gezeigten Gesichter eine niedrige Augenhöhe und einen großen
Augenabstand, in der anderen eine hohe Augenhöhe und einen kleinen
Augenabstand. Die beiden Merkmale "Augenabstand" und "Augenhöhe"
dienten also der Festlegung der Kategorien. Die anderen beiden
Merkmale, also Nasenlänge und Mundhöhe, variierten bei allen
Gesichtern nach dem Zufallsprinzip, waren also für die Einteilung in
die Kategorien irrelevant.
Bei diesen Tests stellten die Max-Planck-Wissenschafter fest, dass
tatsächlich einzelne Neuronen im besagten Hirnbereich auf die beiden
Merkmale "Augenhöhe" und "Augenabstand" reagierten. Die Aktivität
dieser Neuronen war deutlich stärker, wenn diese beiden "relevanten"
Merkmale den zu der Kategorie passenden Wert hatten. Die
spezialisierten Neuronen hatten somit "gelernt", die beiden
Kategorien zu unterscheiden.
Neuronen tragen detaillierte Informationen
Die beiden anderen Merkmale "Nasenlänge" und "Mundhöhe" ließen
diese Neuronen hingegen kalt. Die besagten Neuronen repräsentieren
also nicht nur das Vorhandensein eines bestimmten Objekts oder eines
bestimmten Merkmals. Sie tragen vielmehr ganz detaillierte
Informationen über jene Merkmale, die für die beiden Kategorien
entscheidend sind.
Darüber hinaus konnten die Tübinger Wissenschafter - so eine
Aussendung des Instituts - zeigen, dass die Affenhirne diese in dem
Versuch gelernten Merkmale auch wirklich zur Objekterkennung
verwenden. In der Tat waren die Tiere nach dem Training in der Lage,
Gesichter mit den gelernten Merkmalen einander zuzuordnen.
Aus ihren Arbeiten folgern die Tübinger Hirnforscher, dass es
offensichtlich einzelne Neuronen gibt, welche die Empfindlichkeit der
Wahrnehmung schärfen, wenn sie in einem bestimmten Kontext trainiert
werden. Dieses erlernte "Schubladendenken", also das Einteilen der
Welt nach gelernten Kategorien, ist letztlich dafür verantwortlich,
wie Menschen ihre visuell wahrgenommene Umwelt im Gehirn kodieren und
diese Wahrnehmung dann interpretieren.
(APA)