Es ist das erste Mal seit Beginn der Intifada, dass die israelische Armee eine unter palästinensischer Autonomie stehende Stadt komplett wieder besetzt - wenn auch die rote Linie, die diesmal überschritten wurde, nach den nur teilweise wieder aufgehobenen Abriegelungen von Nablus, Kalkiliya, Djenin, Bethlehem, Hebron und Jericho ohnehin nur noch dünn war. Wieder versucht die israelische Armee klar zu machen, dass sie nur zwecks Bekämpfung des palästinensischen Terrorismus in Tulkarem einmarschiert sei. Wozu dann das Hissen von israelischen Fahnen auf "eroberten" Gebäuden nötig und gut ist, entzieht sich der Kenntnis des Beobachters.

Der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdiensts Shin Beth, Ami Ayalon, brachte es kürzlich in einem viel beachteten Interview mit Le Monde auf den Punkt: Die israelische Gesellschaft versinke in Konfusion, Israel habe jeden Bezug zur Realität verloren, wenn der Armeechef in einem Atemzug "Wir gewinnen" und "Es gibt heute mehr palästinensische Terroristen als vor einem Jahr, und in einem Jahr werden es noch mehr sein" sage. Das könnte ganz gut auch der Befund der jetzt laufenden Operation sein. Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Trotzdem ist die nationale Unterstützung in Israel für diese Politik ungebrochen, die Empfindlichkeit gegen Kritik von außen wird immer größer, und auch die einzelnen, oft sehr schrillen israelischen Gegenstimmen ändern daran nichts - wie etwa die des Labour-Abgeordneten Haim Ramon, der die Regierung, an der seine Partei ja beteiligt ist, mehr oder weniger beschuldigte, das Massaker von Hadera, das zum gestrigen Einmarsch in Tulkarem führte, selbst provoziert zu haben. Womit also der neue Parteichef Benjamin Ben-Eliezer, der am Montag das Ende der Koalition und vorgezogene Neuwahlen in Aussicht stellte, diese gewinnen will, ist völlig unbekannt. Auch hier fehlt der Bezug zur Realität. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 22.1.2002)