Von Richard Reichensperger
In Franz Innerhofers Roman Schattseite (1975) erfährt der aus dem Pinzgau - Verbote, Gewalt und Selbstmord auch dort - Entflohene, dass der Bauhilfsarbeiter Jonny "sich erschossen hatte. Jonny war einer der lustigsten unter den Bauhilfsarbeitern gewesen." Nicht nur auf der biografischen - "äußeren" - Ebene ist die österreichische Literatur seit '45 übervoll mit Suiziden. Auch als Motiv steht er im Zentrum. Und zwar nicht "neurotisch-individuell", sondern in soziologischer Einbettung: Selbstmord, so hatte der Begründer der modernen Soziologie, Émile Durkheim, in Le suicide schon 1897 herausgearbeitet, hängt engstens zusammen mit Reaktionen des Einzelnen auf anonyme Umwelt, mit dem Zerfall von stützenden Gruppen in der Konkurrenzgesellschaft. Gehäuft, so Durkheim im Rückgriff auf Statistiken europäischer Städte und Länder ab 1840, treten Selbstmorde immer nach Umbrüchen und Krisen auf, die Einzelne ins Abseits stellen. Krisenlabor Deshalb muss das schon auf den ersten Blick hin gehäufte Auftreten von Selbstmorden in der österreichischen Literatur als der Ausdruck einer hier wie in einem Kleinlabor gebündelten Krisensituation gesehen werden. Hier zunächst auf der Faktenebene seit 1945: Hertha Kräftner, die größte Hoffnung dieser Jahre, tötet sich 23-jährig 1951. Konrad Bayer mit Gas 1964 (wie seine Romanfigur Goldberg in der sechste sinn ). Gerhard Fritsch, der in Fasching (1967) die Einsamkeit und Verhöhnung eines Deserteurs in einer österreichischen Kleinstadt dargestellt hatte, tötet sich - in Frauenkleidern, wie sie seinem Deserteur übergezogen werden - 1969. Jean Améry 1978 in Salzburg. - Dies nur eine erste Liste. Auffällig in den meisten dieser Biografien ist die Erfahrung des Am-Rande-Stehens in einer sich arrangierenden Gesellschaft. Noch auffälliger aber ist es, dass der Selbstmord auch als Motiv in keiner Literatur irgendeines anderen Landes so massiv präsent ist wie hierzulande. Beispiele? Hertha Kräftner - "wenn ich mich getötet haben werde, werden alle mit Erklärungen kommen" - umreißt in ihrer Geschichte Das Liebespaar die soziale Lage im Nachkriegs-Wien, wo, sozialer Umstände halber, keine nicht entfremdete Beziehung, keine Liebe möglich ist: "Unmenschliche Umstände hinderten das Paar, einen eigenen Hausstand zu gründen. Es war ihr Los, ihr Leben auf Treppenabsätzen, fremden Gängen, Hausfluren, Wartezimmern zu verbringen." - Scheinbar hat diese Beobachtung wenig mit Selbstmord zu tun. Und doch beschreibt Kräftner die sozial bedingte Unmöglichkeit, "Befreiung" zu leben, frei zu atmen: Kein Zufall auch, dass sowohl in einem Gedicht H. C. Artmanns als auch in einer frühen Erzählung Ilse Aichingers das Motiv von Ophelias Selbstmord an die Donau verlegt wird. Soziale Ursachen Émile Durkheim schreibt, dass sich gerade beim scheinbar so "individuellen" Selbstmord die kollektiven Strömungen zeigen: Bei starken traditionellen Gruppenbindungen ist die Selbstmordrate geringer. Nun zerfallen aber gerade traditionelle Systeme wie etwa religiöse Bindungen schon äußerlich in der modernen Gesellschaft, noch stärker aber für intellektuelle und alle Traditionen abstreifende Einzelne. Kaum ein Buch zeigte das Wegfallen sämtlicher Stütz-wie Sinnsysteme seit den 60ern konzentrierter als Peter Handkes Wunschloses Unglück 1972. Schon vor ihm hatte Thomas Bernhard literarisch den Selbstmord ins Zentrum gerückt ( Amras setzt 1964 mit dem Selbstmord der Eltern ein, Frost endet mit dem Selbstmord des Kunstmalers Strauch). Aber Peter Handke versucht noch expliziter, das individuelle Schicksal (seiner eigenen Mutter) als allgemeinen Fall darzustellen. Einiges von Handkes Analyse des Landlebens wird zwei Jahre später in Innerhofers Schöne Tage wieder auftauchen: Die Austreibung von Subjektivität und Gefühl, die Armut, die Strukturen von Befehl und Gehorsam. Diese Mutter wehrt sich dagegen - "sie war imstande, sich ein Leben vorzustellen, das nicht nur lebenslängliches Haushalten war" - und scheitert zugleich an den übermächtigen Strukturen: "Keine Möglichkeit, alles schon vorgesehen, ein bisschen noch Dabeisein nach dem Hantieren in der Küche, von Anfang an Überhörtwerden, Selbstgespräche." Gibt es ein anderes Leben? Vielleicht, aber es ist nicht wählbar. Selbstmorde führen wie nichts sonst jede Ideologie, auch diejenige der "freien Marktwirtschaft", ad absurdum. SIEHE AUCH: "Leibeigener" und Sprachbezwinger
Ronald Pohl zum Tod von Franz Innerhofer
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. 1. 2002)