Mein Zugang zu diesem Thema ist nicht nur politischer, sondern auch und vor allem sehr persönlicher Natur: Ich habe mich, bedingt durch das Schicksal meiner Familie, seit früher Jugend (auch) mit der (Vor-)Geschichte der Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 auseinander gesetzt. Ich registriere daher mit Freude, dass der bevorstehende EU-Beitritt Tschechiens Fragen aufwirft, die über (viel zu) lange Zeit allenfalls für völkerrechtliche Seminare relevant waren. Und ich hätte, wiewohl von Anfang an ein deklarierter Gegner der Koalition mit der FPÖ, kein Problem, Haider in dieser Sache Recht zu geben - so das einfache Parteimitglied sinngemäß etwa Folgendes sagen würde:Nach alter Rechtstradition geht es nicht an, die Vertreibung mit allen ihren Begleiterscheinungen rückwirkend zu legitimieren. Es geht nicht an, Kollektivstrafen zu verhängen - (die im Übrigen bereits 1989 der tschechische Staatspräsident Havel als das bezeichnet hat, was sie tatsächlich waren: "Racheakte"). Es geht nicht an, Lynchjustiz gutzuheißen und Beschuldigten ein Verfahren vorzuenthalten. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Fülle neuer Rechtsetzungen, die deutlich machen, warum die Benes-Dekrete künftig in der Tat "ein Thema" sein müssen: So verlangen die Kopenhagener Beitrittskriterien vom Juni 1993 von neuen EU-Mitgliedern die Achtung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Schutz von Minderheiten und den Verzicht auf Diskriminierung. Ferner heißt es in einer Entschließung des Europäischen Parlaments: "Das Europäische Parlament . . . fordert die tschechische Regierung im Geiste gleich lautender versöhnlicher Erklärungen von Staatspräsident Havel auf, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen." Des Weiteren die UN-Menschenrechtskommission: "Jeder Mensch hat das Recht, in freier Entscheidung und in Sicherheit und Würde in das Land seiner Herkunft sowie innerhalb dessen an den Ort seiner Herkunft oder freien Wahl zurückzukehren. Die Ausübung des Rückkehrrechts schließt das Recht der Opfer auf angemessene Wiedergutmachung nicht aus, einschließlich von Gütern, die ihnen im Zusammenhang mit dem oder als Ergebnis des Bevölkerungstransfers entzogen wurden . . ." Schließlich gibt es die einschlägig bekannte Resolution Nr. 562 des US-Repräsentantenhauses, die alle osteuropäischen Länder auffordert, alle Enteignungen seit den Dreißigerjahren durch Rückgabe und Entschädigung ohne jegliche nationale Diskriminierung wiedergutzumachen. Die Haltung der zivilisierten Welt wäre also klar. Wirklich? Die Sudetendeutschen sind ja weltweit nicht das einzige Beispiel für Vertreibung und Entrechtung. Anhand anderer Beispiele aber hat man erleben müssen, dass die Betroffenen, um auf das erlittene Unrecht aufmerksam zu machen, zu den Waffen gegriffen haben. Sollen die Sudetendeutschen, die schon bald nach der Vertreibung in ihrer Charta sich zum friedlichen Ausgleich bekannt haben, den Eindruck gewinnen, dass der friedliche Weg weniger erfolgversprechend ist? Dies wäre eine Niederlage der Menschlichkeit, die sich keiner der Beteiligten wünschen kann. Europa und im Speziellen die EU ist es sich deshalb selbst schuldig, die offenen Fragen nach Recht und Gesetz zu regeln . . . Spätestens an dieser Stelle aber wäre es an der Zeit, Haider ins Wort zu fallen. Nicht nur, weil es Kampfparolen-Schmieden wie ihm (oder Zeman) sicher zuletzt zusteht, sich als Anwalt europäischer Werte zu gerieren, sondern weil er das notwendige Prozedere in dieser Frage auf den Kopf stellt: Die Bringschuld Tschechiens kann nicht durch Drohungen abgepresst, sondern muss in einem Klima der Offenheit und gegenseitigen Achtung verhandelt werden - im Dialog gleichberechtigter EU-Partner: Europa muss sich öffnen, damit wir heimkehren können . . . (DER STANDARD, Print, 25.1.2002)