Wien - "Big Pharma" - selbst die größten zehn
Arzneimittelkonzerne - steckt in einem Dilemma: Die Produktivität
ihrer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten hat in den vergangenen
Jahrzehnten abgenommen. "Wir beobachten seit Anfang der neunziger
Jahre eine Stagnation, was die Produktivität und die Registrierung
neuer Substanzen betrifft", warnte am Freitag Univ.-Prof. Dr. Jürgen
Drews, ehemaliger Chef der globalen Forschung von Hoffmann-La Roche,
in Wien bei einem Pressegespräch aus Anlass der Verleihung der
Novartis-Forschungspreise 2001.
Zwar habe die Biotechnologie in den vergangenen Jahren Lücken
schließen können, doch neue Strategien wären notwendig, um ein
Überleben der Pharmaindustrie zu gewährleisten. Drews, der 1970 bis
1981 am damaligen Sandoz Forschungsinstitut (nunmehr Novartis) in
Wien, auch als dessen Leiter, arbeitete: "Die Zahl der pro Jahr neu
registrierten Substanzen ist von ehemals 60 auf 20 bis 30 zurück
gegangen. Die Zahl ist seit Jahrzehnten rückläufig. Keine der
globalen Pharmafirmen, keine Sandoz, keine Glaxo, keine Roche hat die
für ein zehnprozentiges Wachstum notwendigen 3,5 neuen Substanzen pro
Jahr herausgebracht. Das Defizit ist sogar noch größer geworden."
Übernahmen
Die Ausweichstrategie: Firmenübernahmen. Die Konzerne kauften
selbst mit großen Konkurrenten weniger neue Märkte, als vielmehr die
in den "Pipelines" der Übernahmekandidaten steckenden
Entwicklungsprodukte.
Doch diese Strategie ging nur zum Teil auf. Drews, einer der
intimsten und kritischen Kenner von Forschung und Entwicklung in
Sachen Pharma: "Die Produktivität ist trotz dieser Konsolidierungen
zurück gegangen."
Mögliche Ursachen dafür: Zum Teil enorm gestiegene Ansprüche an
neue Arzneimittel und die Kosten mit derzeit bereits rund 800
Millionen US-Dollar (903 Mill. Euro/12,43 Mrd. S) für ein einziges
neues und innovatives Medikament.
Gleichzeitig übernahmen Wirtschaft und Marketing die Führung. Der
Experte: "Das hatte eine thematische Einengung der Forschung zur
Folge. Früher hat sich die Industrie als neben den Ärzten und
Apothekern 'dritte Säule' des Gesundheitswesens gesehen. Es hieß
'Finde erst einmal etwas Anständiges, wir werden es dann schon
verkaufen'. Heute konzentriert man sich auf bestimmte Gebiete, die
als Märkte gelten. Die Medizin wird in diesem Sinn vulgarisiert."
Innovationskraft eingeschränkt
Die Konsequenz: ein "Tanz" zwischen Geld und vermeintlichen
Marktchancen, die wiederum auf Forschungsergebnissen aus der
Vergangenheit basieren. Das - so die Meinung von Drews - schränke
vielfach die Innovationskraft ein.
Doch findige Forscher sind längst in diese Lücke gestoßen: die
Biotechnologie mit ihren vielen kleinen und innovativen Unternehmen,
die bereits weltweit eine bunte Szene bilden. Drews: "Die wirklich
neuen Ideen kommen heute zum größten Teil aus der Biotechnologie.
Zwischen 1980 und dem Jahr 2000 hat sie rund 70 neue Stoffe auf den
Markt gebracht." Dieser neue Zweig hätte - zumindest zum Teil - die
Defizite ausgeglichen.
So sieht der Fachmann die größte Zukunftschance der
Pharma-Industrie in der Bildung von Netzwerken gemeinsam mit der
Biotech-Szene und auch universitären Forschungseinrichtungen: "Wir
können nicht alles machen. Aber wir brauchen Leute, die gute Ideen
haben oder sie erkennen können. Sie müssen die besten Ideen ins Haus
holen. Dazu sind aber auch Freiräume notwendig, die man den Menschen
schaffen muss."
"Das Spielerische und Intuitive nicht zu sehr einzuschränken"
Geld dazu wäre ja bei "Big Pharma" prinzipiell vorhanden: Immerhin
deckt sie derzeit noch immer global den größten Teil der
Wertschöpfungskette bei Arzneimitteln ab. Doch alleinige
wirtschaftliche Planbarkeit und enge Korsetts strenger Hierarchien
seien auch kontraproduktiv, was Innovationen und simple Glücksfälle
angeht, so der Experte: "Man muss offen für Unerwartetes sein und
darauf achten, das Spielerische und Intuitive in der Forschung nicht
zu sehr einzuschränken."
Gerade Zufälle aber haben in der Geschichte der
Arzneimittelforschung oft die überragende Rolle gespielt: Von einem
Laboranten nicht ausgewaschene Gläser führten ehemals bei der
Biochemie Kundl zur Entdeckung des Penicillins, das in Tablettenform
verabreicht werden kann.
(APA)