Ein Raketenversuch im Golf von Bengalen zu einer Zeit, wo sich knapp eine Million Soldaten an der Kontrolllinie im Kaschmir gegenüberstehen, ist wohl kaum als Beitrag zur Entspannung zu verstehen. Was also will Indien? Die regierende Hindu-Koalition in Neu-Delhi zeigt, wie man Politik mit der internationalen Krise seit dem 11. September macht.

Indien will aus dem großen Umbau der Allianzen im Gefolge der internationalen Antiterrorkoalition gestärkt hervorgehen und seinen Status als regionale Vormacht im Wettstreit mit Pakistan und China untermauern, günstigenfalls sogar ausbauen. Dafür nimmt Neu-Delhi die zwei spektakulären Anschläge mutmaßlich pakistanischer Muslimextremisten zum Anlass - Selbstmordkommandos stürmten im Oktober zunächst das Regionalparlament in Srinagar, im Dezember dann das Parlament der indischen Hauptstadt. Premier Atal Behari Vajpayee hat jetzt schon mehr erreicht, als zu Friedenszeiten denkbar war. Ohne Afghanistankrieg der USA, ohne Washingtons Druck auf Pakistan wäre Militärmachthaber Pervez Musharraf wohl nicht zur Verhaftung von Extremisten in seinem Land bereit gewesen.

Indiens Generäle aber haben mit der Machtdemonstration eines Raketentests ein riskantes Kalkül verfolgt: Entweder sind sie sich sicher, dass der neu aufgeflammte Konflikt mit Pakistan im Grunde stabilisiert ist; oder sie wollen Pakistans Militärjunta weiter an die Wand drängen und loten Musharrafs Schmerzgrenze aus. Es wäre eine politische Entscheidung, die eine existenzielle Frage verdeckt: Funktioniert die atomare Abschreckung auf dem indischen Subkontinent noch? Vereinbarungen zu Rüstungskontrolle und Konfliktmanagement wie zu Zeiten des Kalten Kriegs zwischen der USA und der Sowjetunion fehlen jedenfalls. Die letzte Garantie für den Frieden in der Region bleibt der Einfluss Washingtons. Doch den jüngsten Raketentest haben auch die USA nicht verhindern können. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 26./27.1.2002)