Patsy Rec./Edel
Die Kunst, im Pop falsche Fährten zu legen, den Hörer an der Nase herumzuführen und ihn schließlich mit etwas völlig Unerwartetem zu überraschen, beherrscht heute kaum noch jemand. Wie auch? Immer schwieriger wird es, in einem Arbeitsumfeld zu agieren, in dem der ständige Ideenaustausch (um das hässliche Wort Diebstahl zu vermeiden) Status qo ist und die letzten "geheim" geglaubten Nischen längst Allgemeinplätze sind. Wo als Talent, als Genie schon jemand ausgewiesen wird, dem es gelingt, Destillate aus dem Pot der Versatzstücke zeitgenössischer Musik so zusammenzuführen, dass das Wörtchen "neu" zumindest bei oberflächlicher Betrachtung kurze Daseinsberechtigung erfährt. Diese Aufmerksamkeit, die, nach Andy Warhol, längst auf "15 seconds of fame" relativiert gehörte, überhaupt noch aufzubringen, wird zur eigentlichen "Kunst." Die Jagd nach Neuem nimmt sich entsprechend lächerlich aus. Zu bescheiden sind die Erfolgsaussichten. Ephemer ist längst ein Dauerzustand. Man kann sich also getrost zurücklehnen. Aus einer solchen Situation heraus scheint Ashley Slater sein Album Big Lounge eingespielt zu haben. Keinerlei Verkrampftheit ist dem Amerikaner, der als Teenager nach Schottland auswanderte, anzumerken. Sogar die eingangs reklamierte falsche Fährte legt er dem zeitgeistigen Musikkonsumenten mit dem Lounge-Wort im Albumtitel. Dem entspricht er zwar, allein die erwartete Sound-Tapete, die spätnächtliche Schlaffheit nach getanem Abhängen im Club vermitteln will, bleibt zugunsten gecroonter Lässigkeiten auf der Strecke. Stattdessen deutet Slater Lounge eher klassisch, was am Ende des Albums, in einer Coverversion von Frank und Nancy Sinatras Something Stupid gipfelt. Jenem Song also, mit dem die beiden Gesangsdarsteller Robbie Williams und Nicole Kidman momentan das Musikfernsehen verstopfen. Doch Slater covert nicht platt und glatt wie Williams und Kidman. Mit laschen Hörnern und einem eckigen Klavier zu technoidem Fieps und Zischel definiert er den Song neu. Slater, der 1993 dem mit Norman Cook (alias Fatboy Slim) betriebenen Projekt Freakpower seine Stimme lieh, schafft es auf Big Lounge mit richtigen und vermeintlichen Klassikern zu verwirren. Strange Dreams etwa klingt zeitlos wie Something Stupid und könnte gut von Tom Jones stammen: Las-Vegas-Glamour und augenzwinkerndes Strizzitum treffen auf Slaters Vorliebe für späten 70er-Jahre-Soul, der sich am Eingang zur Disco am wohlsten fühlt. Die jazzigen Bläser entsprechen Slaters Orchestervergangenheit als Posaunist, der Daumenbass zwingt auf die Tanzfläche. Noch deutlicher tritt der Tom-Jones-Verweis in Understanding (Starts With U) zutage, einem anderen vermeintlichen "Klassiker", während Slater in Merry Xmas den Dean Martin mit schlechtem Gewissen gibt: Toxische Schräglage, weihnachtliche Schlittenglocken und sexy Rhythmen verschmelzen darauf kongenial. Dazwischen schraubt Slater Aufregung und Tempo immer wieder zurück und lässt den Stücken Raum, sich richtig zu entfalten. Wer erst im Alter von 40 Jahren sein Debüt veröffentlicht, weiß offenbar, was er tut. derStandard/rondo/1/2/02