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Marek Halter, Schriftsteller in Paris, hat in Wien aus seinem Buch "Alles beginnt mit Abraham - Das Judentum mit einfachen Worten erklärt" (Zsolnay) gelesen. Am Rande seines Auftritts nahm er zu politischen Fragen Stellung. DER STANDARD: Herr Halter, die israelische Regierung hat unlängst den Vorwurf geäußert, die Lage der Juden in Frankreich sei schlimmer als irgendwo sonst im Westen. Das Land von Emile Zola als Hochburg des Antisemitismus? Halter: Antisemitismus ist in Frankreich heute viel weniger verbreitet als noch etwa in den 50er-Jahren, als ich als Jugendlicher nach Paris kam. Damals wusste man viel weniger über die Juden - man nannte sie "Israeliten" - und entsprechend größer war die Furcht vor ihnen. Natürlich gibt es Grund zur Besorgnis, wenn Brandsätze gegen Synagogen geworfen werden. Aber man muss auch den weiteren Rahmen sehen. Es gibt heute vier Millionen Muslime in Frankreich, viele Jugendliche leben in den Vorstädten unter schwierigsten sozialen Bedingungen. Es wäre nicht zutreffend, wenn man jeden Übergriff gleich als antisemitisch interpretiert. DER STANDARD: Aber für die Spannungen Israel-Frankreich muss es doch Ursachen geben. Halter: Sie haben sicher damit zu tun, dass Frankreich noch immer einen universalistischen, moralischen Anspruch verfolgt. Andererseits haben es die Israelis und die Regierung Sharon - die ich nicht gewählt hätte - nicht gern, sich Lehren erteilen zu lassen. Alle französischen Politiker denken an das Buch, das sie einmal schreiben werden . . . DER STANDARD: Das wäre ihnen ja nicht zu verübeln . . . Halter: Nein, aber das Bücherschreiben verleitet die französischen Politiker oft dazu, sich als Moralisten zu verstehen. Sie sollen Politik machen und die Moral lieber uns, den Intellektuellen, überlassen. DER STANDARD: Von einer Verschlechterung des Klimas zwischen Judentum und Islam in Frankreich nach den Anschlägen des 11. September würden Sie nicht sprechen? Halter: Im Gegenteil, ich glaube, dass die religiösen Autoritäten im Gefolge der Terroranschläge näher zusammengerückt sind. DER STANDARD: In Ihrem Buch "Alles beginnt mit Abraham" vertreten Sie die These, dass Jude sein das Resultat einer Lebensentscheidung, einer Wahl ist. Halter: Ich nehme darin eine Gegenposition zu Sartre ein, der meinte, der Jude werde durch den Antisemiten definiert. Ich bin gewiss nicht aufgrund der Antisemiten Jude. Ich habe das Judentum aus einer bewussten Entscheidung gewählt und versuche die Gründe dafür darzulegen. Mein Freund Leonard Cohen hat sich für den Buddhismus entschieden. Und mein Freund Kardinal Jean-Marie Lustiger hat wieder eine andere Wahl getroffen. (Der Erzbischof von Paris ist vom Judentum zum Christentum konvertiert. Red.) Wenn ich ihn besuche, zeigt er mir diese Kopfbedeckung, die die Kardinäle haben, und sagt "Schau her, das ist meine Kippa" (Lacht). DER STANDARD: Verfolgen Sie noch die Politik in Österreich? Halter: Ich habe 2000 selbst auf dem Heldenplatz demonstriert. Österreich mit seiner reichen jüdischen Tradition - ich sage jetzt nur einmal Mahler, Freud, Schönberg, Karl Kraus - ist ein Land, das mir näher steht als, sagen wir, Albanien. Wie jede Minderheit lieben die Juden Leute, die nett zu ihnen sind. Sie haben Kaiser Josef und das Toleranzpatent nicht vergessen. Wussten Sie, dass die Kleidung, die die orthodoxen Juden tragen, aus dem josefinischen Österreich stammt? Das wissen nicht einmal viele Orthodoxe. Ich habe den Eindruck, dass sich Österreich im Moment von seinem reichen kosmopolitischen Erbe abwendet. Das finde ich schade. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 1.2.2002)