Sie spielen überall, wo es keinen Strom gibt und Batterien zu teuer sind, zuletzt angeblich sogar im Kriegsgebiet von Afghanistan: aufziehbare Radios. Erfunden hat sie "Clever Trevor" Baylis, und gelernt hat er viel dabei - vor allem über die Usancen von Großunternehmen. Burkhard Müller-Ullrich hat ihn daheim auf einer Insel in der Themse besucht. Ein Herbsttag vor zehn Jahren, und der Regen peitschte gegen die Fenster. Der Wind pfiff ums Haus, und die Themse schwoll bedrohlich an, als wollte sie die kleine Insel Eel Pie Island fortreißen und an London vorbei ins Meer spülen. Eel Pie Island liegt im Westen der Stadt bei Twickenham, erreichbar über eine Fußgängerbrücke. Früher gab es hier ein Hotel, in dem unbekannte Bands mit Namen wie "The Rolling Stones" auftraten. Das Hotel ist abgebrannt, an seiner Stelle stehen jetzt ein Dutzend Häuser, die ziemlich selbstgebastelt aussehen. Sie sind es. Vor allem das von Trevor Baylis: vorne Werkstatt, in der Mitte Swimmingpool und hinten eine große Wohnküchenspeisebibliothek mit gläserner Verandaschiebetür und Blick auf den eigenen Anlegesteg. Hier steht auch der Fernseher, den Baylis an jenem unwirtlichen Herbsttag vor zehn Jahren anmachte, um etwas Zerstreuung zu suchen. Was er sah, beschäftigte den gewesenen Wettkampfschwimmer, Zirkusartisten und Stuntman sowie nunmehrigen Swimmingpoolhändler und Hobbybastler über die Maßen: Die Aidsepidemie lasse sich nur durch Aufklärung besiegen, aber die Menschen in Afrika, erfuhr er, hätten nicht mal Geld, um sich Batterien für ihre Transistorradios zu kaufen. Das war der Moment, in dem das Schicksal des gerade 54-Jährigen eine fabelhafte Wendung nahm. Er wusste genau, was zu tun war: Ein batterieloses Radio sollte es sein, ein Radio, das den Strom anderswie bekommt, ein Radio zum Aufziehen. Baylis hatte sich bereits verschiedentlich mit eigenen Erfindungen hervorgetan; vor allem für Behinderte hatte er ein ganzes Arsenal von alltagserleichternden Apparaturen erzeugt - vom Einhand-Dosenöffner bis zum Zigarettenhalter, bei dem man gar keine Hand braucht. Deshalb lief er gleich in die Werkstatt und begann, an einem Prototyp des Kurbelkastens für Radioempfang zu arbeiten. Zehn Jahre danach, an einem wunderbar sonnigen Herbsttag, sitzen wir auf dem Sofa, wo alles angefangen hat, und Baylis läuft unverzüglich in die Werkstatt, um den Prototyp des Kurbelkastens zu holen. Er ist jetzt 64, Millionär und jedem Kind in Großbritannien als "clever Trevor" wohl bekannt. Sein Freeplay Radio ist ein Welterfolg geworden; Prinz Charles, Nelson Mandela und das Rote Kreuz haben es gefördert, das englische Entwicklungshilfeministerium verschickt es massenweise nach Eritrea, und die amerikanischen Streitkräfte werfen es neuesten Meldungen zufolge zusammen mit Nahrungsmittelpaketen über Afghanistan ab. Das Radio ist ein Radio wie jedes andere, bloß die Stromspeisung erfolgt durch einen Dynamo, der von einer starken Stahlfeder angetrieben wird. Einmal aufgezogen, reicht die Kraft für mehrere Stunden, besonders unter dem Himmel Afrikas, weil in dem durchsichtigen Gehäuse auch noch ein paar Solarzellen Dienst tun. "Die Schwierigkeiten bei meiner Erfindung lagen nicht auf dem Gebiet der Technik, sondern des Marketings", sagt Baylis trocken, und man merkt, dass er dazu mehr sagen möchte. Nicht von ungefähr will er eine Erfinderakademie gründen, eine Institution, die Leute wie ihn vor jenen üblen Erfahrungen schützen hilft, die er in seinem Buch Clock This. My Life as an Inventor beschreibt. Denn auf die Marketing-Typen und Business-People, die ihn und seinesgleichen auszubooten und abzuzocken pflegen, hat Baylis einen enormen Rochus. Da kann er sich richtig in Rage reden - so warmherzig und charmant er ansonsten ist. Und wie charmant! Der Inselbewohner empfängt uns schon an der Brücke zusammen mit seinem Hund Monty (der Vorgänger hieß sinnigerweise Rommel), und kaum sind wir im Haus angekommen, gibt es erst mal Tee. "Deutschlandhalle!", sagt der Hausherr, "Weihnachten 1970!" Erinnerungen an seinen Berliner Auftritt werden wach. Er verdiente damals seinen Lebensunterhalt beim Zirkus mit einem Unterwasser-Entfesselungstrick. Schwimmen war immer seine Stärke gewesen, schon während der Schulzeit war er für Großbritannien geschwommen. In Berlin ließ er sich bei "Menschen, Tiere, Sensationen" als Ramses II. mitsamt Sarkophag in einem Schwimmbecken versenken; ein paar Minuten lang hielt er die Luft an, dann mußte er sich von den Schnüren um seine Arme und Beine befreit haben und eine Ausstiegsklappe erreichen. Mit den 6300 Pfund Sterling, die er durch sein Berliner Gastspiel verdient hatte, gründete er eine Firma für Bau, Vertrieb und Wartung von Swimmingpools - mit Wasser musste es zu tun haben. Deswegen bildet ein selbst gebautes Schwimmbecken das Zentrum seines Hauses, das als unbürgerlich zu bezeichnen eine Untertreibung wäre. Hier herrscht ein märchenhaftes Chaos, und Trevor Baylis mit seinem weißen Schnauzbart, seiner Sportskanonenattitüde und seinem Cockney-Akzent ist ein märchenfigurhaftes Exemplar der selbst in England immer rarer werden Spezies des exzentrischen Erfinders. Das Märchen seines Lebens trat erst vor wenigen Jahren in die Glücksphase ein. Eine Weile hatte es eher so ausgesehen, als würde auch dem Freeplay Radio kein anderes Schicksal beschieden sein als seinen vielen vorangegangenen Erfindungen: Er zog mit seinem Prototyp von Philips zu Marconi und zahllosen anderen Großunternehmen, aber die Herrschaften winkten bloß ab. Bestenfalls erklärten sie, dass sie schon selbst an solch einem Gerät arbeiten würden. "Aber das sagten die bloß, zum Vorzeigen hatten sie nichts", echauffiert sich Baylis beim puren Gedanken an seine damaligen Erfahrungen. "Immer taten sie geheimnisvoll und verlangten, dass ich ihre Geschäftsgeheimnisse respektiere, aber zuvor ließen sie sich meine Geschäftsgeheimnisse ausgiebig vorführen. Und wenn ich mich darüber beschwerte, wurde ich hinauskomplimentiert." Immerhin hatte er sein Aufziehradio rechtzeitig zum Patent angemeldet. "Aber selbst dann läuft man Gefahr, von den Nadelstreifenanzugträgern aufs Kreuz gelegt zu werden", setzt er hinzu. "Gegen die großen Konzerne hat ein einzelner Erfinder doch vor Gericht gar keine Chance." Jetzt vielleicht doch. Denn mittlerweile ist er nicht nur Träger des Verdienstordens des British Empire, sondern auch reich genug, um sich außer einem Jaguar E-Type - seiner einzigen Extravaganz - notfalls einen guten Anwalt leisten zu können. Daran ist nun wieder die BBC schuld. Nachdem er eine Zeitlang erfolglos Hersteller für sein Kurbelradio gesucht hatte, genügte ein einziger Fernsehbericht über das Gerät, und Baylis' Telefon stand tagelang nicht still. Endlich meldeten sich kapitalkräftige Interessenten, endlich tauchte ein verlässlicher Geschäftspartner auf, endlich wurde ein Businessplan erstellt. Die BayGen Power Company begann mit der Serienfabrikation in Südafrika, der Rest ist Wirtschaftsgeschichte. Rund 200.000 Freeplay Radios werden monatlich gebaut. Kürzlich bekam er einen Anruf, der zwiespältige Gefühle in ihm auslöste. Die BBC meldete, dass die US Air Force Pakete mit seinen Radios über Afghanistan abwerfen würde, und zwar Radios, deren Empfangsfrequenz einprogrammiert sei, sodass man nur ein Programm empfangen könne. Die Meldung wurde von allen großen Nachrichtenagenturen aufgegriffen und weitergegeben. "Für einen Erfinder ist es natürlich ein Riesenkompliment, wenn seine Erfindung solchen Erfolg hat", sagt der Erfinder vorsichtig, "aber ich wünsche, dass mein Radio zu anständigen Zwecken eingesetzt wird. Ich kann nur hoffen, dass die Radiowellen nicht dazu dienen, Lügen zu verbreiten." Was wirklich in Afghanistan geschieht, weiß keiner. Der US-Verteidigungsminister Rumsfeld hat bestritten, dass Radios abgeworfen wurden, und bei der BBC will man sich inzwischen auch nicht mehr dafür verbürgen. Aber Baylis, der alte Showman, ist zurzeit in seinem Element. Während unseres Gesprächs kommt schon ein Kamerateam für das nächste Interview herein, und dann muss er zum BBC-Studio eilen - dort ist er in der Mittagssendung zu Gast. Und wenn er viel läuft, erzeugen seine Schuhsohlen Elektrizität: seine neueste Errungenschaft. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2./3. 2. 2002)