International
Die Unsicherheit der neuen Bewegung
In Porto Alegre wird um die Vision einer besseren Welt gerungen
Porto Alegre - Es gibt wieder ein historisches Subjekt gesellschaftlicher Veränderung. Beim Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre wird sich die globalisierungskritische Bewegung mehr und mehr bewusst, wer sie ist und was sie will. Woher sie kommt, ist klar: Landlose in Brasilien, Reisbauern in Indien, Bewohner der Slums von Johannesburg, Mexiko-Stadt oder Manila, Umweltschützer aus den Industrieländern und Pariser Linke eint der Abscheu vor einem alles beherrschenden Markt, der eine demokratische Gestaltung der Lebensverhältnisse zunehmend erschwert.Der philippinische Soziologe und Star der Bewegung, Walden Bello, umriss die gemeinsamen Werte der vielen Tausend Gruppen: Nachhaltigkeit gehöre dazu, Basisdemokratie, Solidarität und Gleichheit. Und das vielgestaltige gesellschaftliche Subjekt ist dabei, eine politische Führung neuen Typs zu akzeptieren. Walden Bello erntete Applaus, als er Susan George, der Aktivistin der Organisation Attac, eine Führungsrolle im Sinne "moralischer Legitimität" zusprach. Diese Leadership werde nicht durch Wahl vergeben, sondern müsse sich in der Arbeit täglich neu rechtfertigen.
Andere Welt ist möglich
Und die Bewegung arbeitet an gemeinsamen Zielen. Die Forderung nach der Tobinsteuer, die internationale Finanzkrisen unterbinden soll, reicht nicht mehr aus. Oft wird die Frage gestellt, die Peter Wahl vom deutschen Think-Tank "Weed" in Anlehnung an das Forum-Motto "Eine andere Welt ist möglich" formulierte: "Wie sollte diese andere Welt konstruiert sein?"
Dabei ist das Weltsozialforum jetzt einen Schritt weitergekommen. Verschuldete, von Krisen geschüttelte Staaten und ihre Einwohner will man nicht länger der Willkür der internationalen Banken überlassen. Die Forderung nach einem gerechten Verfahren für den Fall des Staatsbankrotts ist ein Ergebnis von Porto Alegre. Gemünzt ist dies aktuell auf Argentinien. Das Land hat 150 Mrd. Dollar Schulden bei ausländischen Investoren, für die es nicht einmal mehr die Zinsen bezahlen kann. Nach dem geforderten neuen Insolvenzverfahren hätte Argentinien das Recht, ein unabhängiges internationales Schiedsgericht anzurufen, das auch die argentinische Bevölkerung anhören muss.
Doch die Suche nach der großen, ausformulierten politischen Vision bleibt schwierig. Ausdruck dessen ist die Weigerung der Organisatoren, zum Ende der Konferenz am Dienstag eine programmatische Erklärung zu präsentieren. Eine Ursache dafür liegt darin, dass in vielen Workshops und Konferenzen untergründig zwei Konzepte eine Rolle spielen, die sich nicht unbedingt ausschließen, aber doch andere Akzente setzen.
Das eine ist das von Walden Bello geforderte Projekt der "Deglobalisierung". Er will die großen Wegbereiter des Neoliberalismus wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank entmachten und die Globalisierung zum Teil rückgängig machen. Die Protagonisten von Attac plädieren dagegen eher für einen "globalen Gesellschaftsvertrag", der Strukturen des alten Nationalstaats auf Weltebene wiedererrichten soll. So könnte zum Beispiel die UNO globale Steuereinnahmen verwalten und für Entwicklungspolitik verwenden.
Doch die möglichen Konflikte werden selten ausgetragen. Kontroverse Debatten sind in Porto Alegre Mangelware. Den GlobalisierungskritikerInnen geht es vor allem um das gegenseitige Kennenlernen, den Informationsaustausch und nicht zuletzt die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls.
Gegen IWF, WTO & Co
Die Opposition gegen Währungsfonds (IWF), Weltbank und die Welthandelsorganisation WTO zieht sich als roter Faden durch die Veranstaltungen. Martin Khor vom malaysischen "Third World Network" und die indische Ökofeministin Vandana Shiva schilderten plastisch, wie die EU-Kommission auf der WTO-Konferenz in Katar im vergangenen November die Fortschreibung der Verhandlungen erzwang. Die afrikanischen Staaten und Indien seien in letzter Minute "über den Tisch gezogen worden". Tony Blair habe dem indischen Premier in einem Telefonat mit Repressalien gedroht, sagte Shiva. Die USA und Europa hätten die Lage nach dem 11. September dazu genutzt, um ihre WTO-Agenda durchzudrücken, durch die die Rechte der transnationalen Konzerne weiter ausgeweitet werden sollten.
Für Martin Khor ist die Forderung nach Sozial- und Umweltklauseln im internationalen Handel ein "Ablenkungsmanöver", durch das die Industriestaaten - wie auch die EU - bei den Katar-Verhandlungen ihren Protektionismus rechtfertigen wollen. Letztlich sollten dadurch die Arbeiter in Nord und Süd gegeneinander ausgespielt werden.
Nach dem selben Prinzip funktionierten die Nordamerikanische Freihandelszone Nafta und das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und der EU, so Héctor de la Cueva von der latein- und nordamerikanischen "Kontinentalen Sozialallianz". "Europa ist in diesen Fragen um keinen Deut besser als die USA", sagte der Mexikaner. (DER STANDARD, Print, 4.2.2002)