Reinhard Kager
Graz - Eine ungreifbare Bedrohung liegt über dem Stück. Selbst harmlosen Kinderliedern ist jede Unschuld genommen: Merkwürdig verschmutzt tönen die oft bitonal instrumentierten Melodien, die sich kaum mit einer unbeschwerten Kindheit assoziieren lassen. Miles und Flora, die beiden Waisen auf dem Landhaus in Bly, haben trotz ihrer Jugend zweifellos schon einiges mitgemacht. Wie der Komponist Benjamin Britten, der nicht nur den Rohrstock einer britischen Eliteschule zu spüren bekam, sondern auch mit der angestauten sexuellen Lust der brutalen Erzieher konfrontiert worden war.

Obwohl Britten zu den wichtigsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts zählt, besitzt seine Musik in Österreich keine Tradition. Erst in jüngster Zeit waren Peter Grimes und Billy Budd zum ersten Mal an der Wiener Staatsoper zu sehen. Nun versucht die Grazer Intendantin Karen Stone The Turn of the Screw in der Steiermark heimisch zu machen. Wer die Schraube so kräftig überdreht, dass plötzlich zwei verstorbene Bedienstete, Peter Quint und Miss Jessel, in dem britischen Landhaus wieder auftauchen, lässt sich kaum eindeutig feststellen.

Rettung mit unaufhörlichen Rätseln

Das liegt nicht nur an Brittens stets von Neuem changierender Musik, sondern auch am Libretto von Myfanwy Piper, das mit seinen unaufhörlichen Rätseln die Offenheit der ursprünglichen Erzählung von Henry James in die knappe Opernsprache rettet.

In der Grazer Erstaufführung wird die dänische Sopranistin Ann Petersen als Gouvernante gleich zu Beginn mit Merkwürdigkeiten konfrontiert: Ein stilgerechter Oldtimer bringt sie in den Salon eines weiß getünchten Manour House, dessen Boden mit britischem Rasen bedeckt ist. Darauf tollen die beiden Kids mit einem Steckenschwein und einer Totenkopf-puppe um ein schief liegendes Klavier, aus dem der verblichene Quint und seine umworbene Miss Jessel kriechen: zwei Zombies, deren Schrecken allerdings eher dem harmlos-poppigen Schauder der Rocky Horror Show gleicht.

Latente Triebkräfte

Die Geister nicht wirklich ernst genommen und keine stilisiert transzendente Chiffre dafür gefunden zu haben, ist zweifellos eine Schwäche von G. H. Seebachs sonst so genauer Inszenierung, die immer wieder dezent auf die latenten erotischen Triebkräfte der Horrorstory hinweist. Mit jäh wechselndem Licht, geheimnisvoll auf- und zugehenden Schiebetüren und plötzlich aufklaffenden Erdlöchern versuchen Seebach und sein Bühnenbildner Hartmut Schörghofer die dunkle Atmosphäre des Stücks einzufangen. Beste Unterstützung fand das Regiekonzept in der musikalischen Deutung durch Dirigent Philippe Jordan, der seit Beginn dieser Spielzeit Chefdirigent des Grazer Philharmonischen Orchesters ist.

Die heikle Aufgabe, mit nur vierzehn Musikern Brittens kammermusikalischer Partitur die nötige Dramatik zu verleihen, löste Jordan mit hoch differenzierter Dynamik und einem Klangvokabular, das die Musik förmlich zum Sprechen brachte. In dem Tölzer Sängerknaben Patrick Prasch fand der voluminöse Sopran Ann Petersens einen auch szenisch vortrefflichen Partner als Miles, der im Sog von Matthias Zachariassens düsterem Mr. Quint gemeinsam mit seiner Schwester Flora (Eimear McNally) den Boden des Realen unter den Füssen verliert.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 05.02. 2002)