Kaschmir: Angst vor Extremisten, Angst vor der Armee
STANDARD- Lokalaugenschein in Srinagar: Aufgereihte Leichen als "Routinevorfälle"
Redaktion
,
Acht tote "Militante" am
Mittwoch. Fünf davon zeigt
uns ein Fotograf in der "Fleet
Street" Srinagars - einem
Gässchen, in dem die Zeitungen angesiedelt sind - auf einem frisch aufgenommenen
Foto. Ihre Leichen sind aufgereiht vor einem Tisch im Freien, hinter dem Militärs stehen. Die Bilanz am Dienstag
war ähnlich hoch, aber diversifizierter, vielleicht typischer: vier Terroristen, zwei
Zivilisten, die versehentlich
erschossen wurden, ein indischer Soldat, der sich umgebracht hat.
Und doch sprechen die
Journalisten in Srinagar von
"Routinevorfällen". Seit der
Rede von Pakistans Präsident
Pervez Musharraf Mitte Jänner
halten sich die zwei wichtigsten in Kaschmir tätigen pakistanischen Gruppen - Jaish-e
Mohammed und Lashkar-e
Toiba - offensichtlich zurück.
Seitdem habe es keine großen
Aktionen mehr gegeben, nur
das Übliche wie Infiltrationen
über die Grenze, Hinterhalte,
Schießereien. Aber noch mag die Regierung in Delhi nicht
an eine Beruhigung glauben.
Es könnte auch das schlechte
Wetter sein, in den Bergen
liegt der Schnee meterhoch.
Trotzdem sterben täglich
Menschen in Kaschmir, aus
dem es aus Gründen der Terrorismusbekämpfung keine
Handy- oder E-Mail-Verbindungen und internationale
Telefonlinien nur für Privilegierte gibt. "Wir wissen nicht,
ob wir zurückkommen, wenn
wir in der Früh das Haus verlassen", sagt ein junger Tourismusangestellter, der an
Auswandern denkt. Arbeitslosigkeit - Touristen gibt es
keine mehr, und etwas anderes hat es hier nie gegeben -,
Armut, Angst vor den Extremisten und der Armee gleichermaßen prägen das Leben.
Ashiq hegt keine Sympathien für die Islamisten, PoK (Pakistan occupied Kashmir)
oder Azad Kaschmir (Freies
Kaschmir), wie es auf der anderen Seite heißt, ist ihm eher
egal. Von Bara Mulla, einem
Städtchen nahe Srinagar, in
dem die Militanten besonders
aktiv sind, ist er auf die winterliche Hochebene von Gulmarg geflüchtet. Hier verläuft
die Grenze so hoch im Gebirge, dass es ruhig bleibt. Außerdem wimmelt es von Soldaten. Sie werden zur Alpinausbildung hergeschickt.
Zu den Wahlen im Staat
Jammu und Kaschmir im
Herbst wird Ashiq, wenn er
noch da ist, genauso wenig
gehen wie vier der fünf Männer, die sich in einer jämmerlichen Holzhütte um einen
Kanonenofen versammelt haben. Nur einer wird teilnehmen und den Nationalkongress von Faruq Abdullah,
dem der Zentralregierung in
Neu Delhi gefälligen Chefminister, wählen. Alle anderen
werden sich dem am Dienstag
ausgerufenen Wahlboykott
der Hurriyat, einem Konglomerat von separatistischen
Parteien, anschließen.
Entfremdung von Delhi
"Delhi hat noch nie etwas
für uns getan." Die Entfremdung ist komplett, da greifen
alle Einwände nicht, dass die
Armut in Indien auch anderswo groß ist und dass
Kaschmir nach dem
Verständnis der Zentralregierung ohnehin hoch subventioniert ist. Mit historischen
und rechtlichen Fakten, auf
die Delhi pocht, braucht man
den Menschen gar nicht zu
kommen. Am liebsten wäre
ihnen ein unabhängiges
Kaschmir, glaubt Yusuf Jameel von The Asian Times.
Aber lieber wollen sie zu Pakistan, als bei Indien bleiben.
Da für sie Indien keine Demokratie ist, greift auch der Hinweis auf die politischen Verhältnisse in Pakistan nicht.
Jameel glaubt auch nicht, dass
sich bei Abnehmen der von
Pakistan gesponserten Gewalt
- und in der Folge der indischen Armeeübergriffe - die
Probleme von selbst erledigen.
Eine politische Lösung
muss gefunden werden, aber
Wahlen in Kaschmir, sagt
Hurriyat-Vorsitzender Abdul
Ghani Bhat, können dazu
nichts beitragen. Einige Huriyat-Gruppen sollen einer
Teilnahme nicht abgeneigt
gewesen sein, aber da das auf
indirekte Anerkennung der
indischen Verfassung hinausgelaufen wäre, kam es wohl
nie infrage. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 9./10.2.2002)
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