Der orthodoxe Oberrabiner Jonathan Sacks wurde vor kurzem in einer israelischen Tageszeitung mit der Aussage zitiert, dass die Muslime die archetypischen Antisemitien des neuen Jahrtausends seien, wobei dem Staat Israel die Rolle des klassischen verfolgten Juden zufiele. Lord Janner, ehemaliger Präsident der Londoner Watchdog-Organisation, beobachtet eine doppelte Woge des Antisemitismus: in der "bösartigen und oft notorischen Anti-Israel-Haltung" der linksliberalen Presse und im traditionellen Antisemitismus am rechten Rand der Aristokratie. Und der amtierende Watchdog-Präsident sagte dieser Tage in einem Interview, dass "sich viele Leute fürchten, beim Mittagstisch oder im Büro gegenteilige Meinungen zu äußern, und wenn sie es doch versuchen, schreit man sie nieder, weil sie Juden sind."Starke Vorwürfe, die knapp 60 Jahre nach dem Holocaust ernst genommen werden wollen. Sehen wir, ob sie der Realität stand halten. Zum einen: Die politischen Reaktionen der Muslime auf den Staat Israel mit dem christlich motivierten Antisemitismus der Vergangenheit gleichzusetzen, ist gefährlich unhistorisch. Und mit dem "Als Antizionismus-getarnten-Antisemitismus" kann man es auch übertreiben: Vergessen wir nicht, dass es ein ehemaliger Premier des Likud-Blocks gewesen ist, der diese Karte erstmals ins Spiel gebracht hat und von Holocaust-Überlebenden scharf dafür kritisiert wurde, dass er die Erinnerung an den Holocaust benütze, um jede seiner Aktionen zu rechtfertigen. Wir Juden tun uns selbst keinen Gefallen, wenn wir bei jeder Gelegenheit gleich den Antisemitismus-Vorwurf erheben, egal ob es sich um einen liberalen Kommentator, der die Unverhältnismäßigkeit der israelischen Militäraktionen gegen den Terrorismus handelt, oder einen Holocaust-Leugner der National Front. Was andererseits den Französischen Botschafter betrifft, der unlängst bei einem Dinner im Haus eines Sharon-freundlichen Medien-Tycoons Israel "a shitty little country" genannt hat, so stimme ich jenen zu, die empört seinen Rücktritt forderten. Und zwar nicht deswegen, weil er sich so geschmacklos verhielt, sondern weil jeder Diplomat, der zu so einer Party geht und sich derart äußert, entweder betrunken gewesen sein muss oder so schlecht gebrieft, dass er so oder in seiner Funktion nicht tragbar ist. Worum es mir geht ist einfach ein Gefühl für Verhältnismäßigkeit. Es ist schwer, irgendeine Perspektive zu bewahren, wenn jüdische Kritiker der israelischen Politik routinemäßig als Netzbeschmutzer, Araber-Freunde, oder Kollaborateure des Feindes denunziert werden. Im Gegensatz zu den alermierenden Erfahrungen anderer Gäste, treffe ich, wenn ich bei Nichtjuden zum Essen eingeladen bin, auf Anerkennung für Israels Leistungen und seine Demokratie, Trauer über das Schicksal der West-Bank-Siedler, Erbitterung über Arafats zögerliche Haltung, Abscheu gegen die Selbstmordattentäter und alle Fundamentalisten - und Sympathie für die Palästinenser, die Israels Panzern und Kampfjets gegenüberstehen. Es sind genau die Gefühle, die ich teile. Und wenn das der viel beschworene britische Antisemitismus ist, dann ist Israel sicher stark genug, damit leben zu können. Objektiv betrachtet, ist es den Juden in der westlichen Welt noch nie so gut gegangen wie heute. Wir sollten die Gefahr des Antisemitismus sicher nicht verharmlosen. Aber zur Zeit lebt man als Jude einfacher und sicherer als ein Muslim, ein Schwarzer oder ein osteuropäischer Asylant. Ich hoffe, meine Konfessionskollegen denken daran, wenn sie sich wieder einmal bemüßigt fühlen, die antiisraelischen Umtriebe der Medien zu beklagen. (DER STANDARD, Printausgabe,9./10.2.2002)