Dem einstigen starken Mann Serbiens
werden Völkermord in Bosnien
sowie Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, Verstöße
gegen das Kriegsrecht und gegen die
Genfer Konvention
in Bosnien, Kroatien und im Kosovo vorgeworfen. Konkret bedeutet dies: Massenvertreibungen, Massenerschießungen von Zivilisten und Kriegsgefangenen, Folterungen und Misshandlungen im
großen Stil, begangen durch militärische und
paramilitätische Einheiten, über die der Angeklagte Kommandohoheit besessen haben
soll. Milosevic ist das erste Exstaatsoberhaupt, das sich vor einem internationalen Gericht verantworten muss.
Historische Bedeutung
Nachdem der vorsitzende Richter des Dritten Strafsenats, der Brite Richard May, die
Verhandlung eröffnet hatte, erhielt die Chefanklägerin des UNO-Tribunals, die Schweizerin Carla del Ponte, das Wort. Die ehemalige Mafia-Jägerin war bestrebt, die historische
Bedeutung des Augenblicks zu unterstreichen. "Heute erleben wir, wie noch nie zuvor,
internationale Justiz in Aktion", sagte sie.
"Dieses Tribunal und insbesondere dieser
Prozess sind die machtvollste Demonstration
dafür, dass niemand über dem Gesetz steht
oder für die internationale Justiz unerreichbar ist." Del Ponte betonte zudem, dass Milosevic "als Individuum" angeklagt sei und
"auf der Grundlage seiner individuellen strafrechtlichen Verantwortung" verfolgt werde.
In einer detailreichen Rede erläuterte der
stellvertretende Chefankläger Geoffrey Nice
die Umstände des Aufstiegs von Milosevic
zur Macht, die Abläufe der von ihm ausgelösten Kriege in Kroatien, Bosnien und im Kosovo und die sie begleitenden Verbrechen. Als
"Teil ein und derselben Transaktion" sollten
sie dazu führen, dass der Angeklagte "durch
die gewaltsame Entfernung von Nichtserben
aus Exjugoslawien einen zentralisierten serbischen Staat gewinnt und kontrolliert".
Erdrückende Beweislage
Nice gab einen Vorgeschmack von der zu
erwartenden Beweisführung der Anklage in
diesem Mammut-Prozess, der möglicherweise zwei Jahre dauern wird: Videobänder von
Schlüsselereignissen, wie etwa Milosevic'
Hetzrede am 28. Juni 1989 zum 600. Jahrestag
der Schlacht auf dem Amselfeld, wurden
ebenso in den Verhandlungssaal eingespielt
wie ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Milosevic und dem bosnischen Serben-Führer Radovan Karadzic aus dem Jahr
1991, in dem Karadzic darlegt, wie er sich
beim zuständigen Armeekommandanten in
Banja Luka Waffen holen und sie an die bosnischen Serben verteilen soll.
Milosevic hörte diesen Ausführungen mit
steinerner Miene zu. Lediglich bei der Einspielung der historischen Aufnahmen ließ er
ein nostalgisches Schmunzeln übers Gesicht
huschen. Bereits in den Vorverhandlungen
hatte er erklärt, dass er dieses - aus seiner
Sicht - "gefälschte" Gericht nicht anerkennt,
und auf Anwälte verzichtet.
Inhaftierung in Österreich?
Wie berichtet könnte Milosevic eine allfällige Haftstrafe in Österreich absitzen. Allerdings: "Dies", so Gerald Waitz, der Sprecher
von Justizminister Dieter Böhmdorfer, "kann
das abgelehnt werden, wenn Nachteile für die
Sicherheit zu befürchten sind." Ob dies bei
Milosevic der Fall sei, könne aber erst dann
beurteilt werden, wenn es einen richterlichen
Antrag auf Inhaftierung gebe. Auch das Gefängnis, in dem er einzusitzen hätte, würde
erst dann bestimmt. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 13.2.2002)