Antonio Fian

Ich lebe in Österreichs einziger moderner Großstadt, der Leopoldstadt. Genau wie viele andere moderne europäische Großstädte hat die Leopoldstadt eine bewegte Geschichte; sie hat namhafte Persönlichkeiten hervorgebracht, und viele von ihnen mussten, von einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte an, aus der Leopoldstadt fortgehen, um nicht, wie dann unzählige andere Persönlichkeiten, ob namhaft oder namenlos, fortgebracht zu werden aus ihr und ermordet in den Lagern, und diese Geschichte war neu und sie war entsetzlich, und was folgte, war die entsetzliche alte, eine Geschichte von Rache und Zerstörung, kaum ein Stein, der auf dem anderen blieb.

Aber genau wie viele andere europäische Großstädte hatte die Leopoldstadt die Kraft, wieder aufzuerstehen aus allem Leid und den Trümmern und zu dem zu werden, was sie heute ist, eine, in ihrer Kleinheit und für immer belastet mit einer Geschichte, die sich nicht wegtun lässt, vorbildliche moderne europäische Großstadt, denn nur in wenigen anderen gelingt dieses scheinbar mühelose, friedliche Neben-, ja Mitein- ander von Menschen verschiedener Nationalitäten, Hautfarben und Religionen, von unterschiedlichsten Milieus, nirgendwo sonst produziert ein so großes Reservoir an Konfliktmöglichkeiten so wenig Gewalt.

Aber natürlich ist, wie alles, was auf komplizierte Weise gut ist, auch die Leopoldstadt ständig in Gefahr, einfach ruiniert zu werden. Rasch wächst auch in ihr die Zahl der anständigen Menschen.

Ich war mir über die Bedeutung des Begriffs "anständig" lange Zeit im Unklaren. Er schien mir in die nähere Umgebung der Begriffe "ehrlich", "gut", "gerecht" zu gehören, aber er war doch verschwommen, nichts Richtiges war mit ihm auszudrücken. Auch den Versuch, das Rätsel zu lösen, wie es möglich sei, dass in österreichischer Sprache einerseits, wer Anstand hat, keinen hat, andererseits aber, wer einen hat, keinen, hatte ich längst aufgegeben, als ich vor einigen Jahren auf dem Karmelitermarkt Zeuge wurde, wie zwei türkische Frauen frühmorgens bei Herrn A., einem der Bauern, die dort an den Wochenenden ihre Stände aufbauen, Gemüse kauften.

Sie schienen erst vor kurzem in die Leopoldstadt gekommen zu sein, auch gängigster Begriffe des Österreichischen waren sie nicht mächtig und zeigten daher auf die Waren, die sie erwerben wollten, Herr A. klaubte Stück für Stück in eine Plastiktasche, und wenn es genug waren, hob die Ältere der beiden die Hand, und er hörte auf. Zu bezahlen waren schließlich etwas weniger als hundert Schilling, und die Jüngere übergab Herrn A. einen Tausendschillingschein. Er betrachtete ihn kritisch, als handle es sich um Falsch-, zumindest schlechtes Geld, machte dann seinerseits den Frauen ein Zeichen zu warten und verschwand.

Die Türkinnen waren verwirrt, begriffen nicht, was sonst alle wussten, dass er gegangen war, um irgendwo den Schein zu wechseln, was am Karmeliterbauernmarkt und noch dazu so früh am Morgen nicht einfach ist. Andere Kundinnen redeten auf die beiden ein, ruhig zu bleiben, und tatsächlich kehrte Herr A. nach zwei, drei Minuten zurück, ein dickes Bündel kleiner Scheine in der Hand.

Er gab den Frauen auf hundert Schilling heraus, steckte den Rest ein, deutete ihnen, dass damit die Transaktion abgeschlossen sei, und ließ sie, die zwar verwundert waren, aber nicht vertraut mit österreichischen Preisen, abziehen. Kaum aber hatten sie sich ein Stück entfernt, rief er sie zurück, laut, autoritär, dass sie zusammenzuckten, beorderte sie zu sich und händigte ihnen, nachdem er sie, zum Gaudium der Umstehenden, ermahnt hatte, besser auf ihr Geld zu achten, die fehlenden neunhundert Schilling aus.

Es schien mir damals und scheint mir bis heute ein übertrieben grober Scherz, den Herr A. sich mit diesen beiden Türkinnen erlaubt hatte. Gewiss wäre von den Umstehenden, die er amüsierte, niemand gern sein Gegenstand gewesen. Dass es dennoch ein Scherz war, dass nie die Absicht bestanden hatte, die Frauen zu betrügen, war das Einzige, was sich zu seinen Gunsten ins Treffen führen ließ, und umso überraschender war daher die Reaktion zweier älterer Damen, die von Anfang an dem Geschehen beigewohnt hatten und nun einander überboten in Bekundungen der Herzensgüte des Herrn A. "So ein guter Mensch, so ein guter Mensch", rief die eine, und die andere: "Ich hab's gewusst, ich hab's von Anfang an gewusst, dass er's zurückgibt." "Hätt er nicht müssen", die eine wieder, und die andere, bestätigend, "hätt er nicht müssen. Wenn sie nicht aufpassen, ihre Schuld." "Aber unser Herr A. tut so was nicht", die Erste, und die andere, begeistert: "Ein guter Mensch, unser Herr A., so ein guter Mensch."

Damals auf dem Karmelitermarkt habe ich begriffen, dass in Österreich ein anständiger Mensch mit einem ehrlichen, gerechten oder guten nicht unbedingt etwas gemein haben muss. Anständig wäre Herr A. auch gewesen, hätte er das Geld behalten. Und ich habe begriffen, dass es in diesem Land kein Widerspruch ist, dass Repräsentanten einer Partei, die die anständigen Menschen vertritt, immer wieder in Betrugsaffären verwickelt sind, sondern logische Folge.

Seit damals begegne ich den anständigen Menschen mit Vorsicht, und ich begegne ihnen, ohne das zu wollen, immer öfter. Als in der Billa-Filiale am Praterstern eine Feinkostabteilung eingerichtet wurde, wurde, meist nach Geschäftsschluss, oft bis tief in die Nacht gearbeitet. Einmal, spätabends, belauschte ich im Vorbeigehen zwei noch junge, sehr betrunkene Männer, die sich, während sie durch die Auslagenscheibe denen drinnen bei der Arbeit zusahen, lautstark beschwerten, dass diese Ausländer ihnen, die Österreicher waren und arbeitslos, die Arbeitsplätze raubten. Es sei höchste Zeit, riefen sie, "dass der Jörg kommt", dass der Anständigste etwas gegen diesen Missstand unternehme.

Und ich habe mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn ihr Wunsch in Erfüllung ginge, wenn tatsächlich "der Jörg" oder jemand anderer, zum Beispiel der Innenminister Schlögl, dafür sorgte, dass die Republik Österreich ihrer Forderung nachkäme. Der Beamte im Arbeitsamt würde ihnen mitteilen, dass von nun an die Zahlungen eingestellt würden, weil es gelungen sei, die nachts beim Billa arbeitenden Ausländer zu vertreiben und diese Arbeitsplätze ihnen zur Verfügung zu stellen, und zwar zu denselben Konditionen. Kurz, vermutlich würde es ihnen die Sprache verschlagen, aber sie würden rasch ihr Bewusstsein wiedererlangen und empört rufen, dass es höchste Zeit sei, "dass der Jörg kommt", dass der Anständigste etwas gegen diesen Missstand unternehme.

Das Problem mit den anständigen Menschen in Österreich ist, dass sie, egal was sie tun, ob sie lügen und betrügen, anständige Menschen bleiben. Sie sind anständig, wenn sie eine moderne europäische Großstadt wie die Leopoldstadt zuplakatieren mit der Forderung, einem nicht geringen Teil ihrer Bewohner das Bürgerrecht zu entziehen. Sie sind anständig, auch wenn sie das Unanständigste sagen.

Antwortet ein Anständiger auf die Frage, was ihm zum Begriff "Nazi" einfalle, "Neu-Attraktiv-Zielstrebig-Ideenreich", so hat er nur einen Witz gemacht. Und er hat nur eine Redensart gebraucht, wenn er erklärt, wenn seine Partei an die Macht komme, werde kein Stein auf dem anderen bleiben.

Antonio Fian lebt als Schriftsteller in Wien.