In der Bibliothek seines Vaters entdeckt 1936 der achtjährige Stefan Moses Schachteln mit Glasnegativen und eine Plattenkamera. Er fotografiert seine Katze im schlesischen Liegnitz und einen Heldentenor in der Breslauer Oper. 1943 wird dem der damaligen Sprachregelung nach "halbjüdischen" Stefan Moses der Schulbesuch verboten, eine Kinderfotografin gibt ihm eine Hilfsarbeiterstelle in ihrem Labor.

Heute noch fotografiert Moses die Gesichter von Menschen, von Katzen und von östlichen Landschaften, von Berühmten (Marianne Hoppe, Ernst Bloch, T. W. Adorno, Joseph Beuys) und von Unbekannten.

Graues Licht, das wenig verspricht

"Was Sie das Tote genannt haben", fragt Joseph Beuys zu den Fotos, "ja, das Tote. Ist das Environment tot?" - Bei ihm und Stefan Moses nicht. Einen seiner schönsten Fotobände nannte Moses Transsibirische Eisenbahn. Darin dieses Foto: 4. Oktober 1962, Bahnsteig 2, Sussex Station, London: Zwei Frauen warten auf ihren Zug. Sie sind nur mäßig aneinander interessiert. Und außer Stefan Moses interessiert sich im Augenblick keiner für sie. Das graue Licht verspricht wenig.

Das Kind im weißen Anzug mit der weißen Mütze auf dem Arm der Jüngeren ist aufgeweckt und lenkt die Blicke auf sich. Die seiner Mutter, die von Stefan Moses und die der älteren gelangweilten Frau, die dem Bahnsteig ähnlicher sieht als sich selbst: Sie hätte ganz gern Interesse für das fremde kleine Kind, aber es reicht nicht. Sie hat an sich nicht genug Interesse, kann nicht viel abzweigen.

Der nächste Zug könnte der Szene helfen, aber er ist nicht in Sicht und macht sie unabsehbar: die unauffällige Szene, die lange Bank und den stummen Augenblick des 4. Oktober 1962. Hände, die sinnlos in weißen Handschuhen stecken Jenseits des Bahnsteiges ist wenig zu sehen: helle Häuserblocks, Chimney pots, Waggons. Zum Glück will das Kind beachtet werden, sonst bliebe der Tag stecken. Wie der halbinteressierte Blick der Älteren, ihr Kopf unter dem runden Hut und ihre Hände, die sinnlos in den weißen Handschuhen stecken: Mehr als die übliche sinnlose Freundlichkeit für fremde kleine Kinder bringt sie nicht auf. Und es wäre auch unnötig. Die Szene gehört dem Augenblick; dauerte sie länger, würde sie kippen. Der Zug, auf den sie warten, könnte von London über "Transsibirien" nach Wladiwostok führen. Er könnte aber auch ebenso gut wegbleiben. Es kommt nicht mehr auf ihn an. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.02. 2002) Die nächste "Unglaubwürdige Reise" wird nächsten Freitag angetreten.