Wien - "Faust I", die Szene im Studierzimmer. "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält . . ." - "Versuchen Sie eine Definition, was Faust sucht. In moderner Sprache", fordert die Deutschlehrerin Herta Hans die Klasse auf. Seth-Moses sitzt nur und schaut. Und grinst. Die anderen grübeln. Seth-Moses spielt mit dem Kugelschreiber und gluckst vor sich hin."Ich glaube, es ist einfach dieses: Wer bin ich, woher komme ich?", meint einer in der Klasse. "Passt das hier?", will Herta Hans wissen. "Nein", erklärt eine. "Weißt du, woher du kommst?", gibt der Schüler zurück. "Aber sag jetzt bitte nicht ,vom Storch'." Seth-Moses juchzt kurz auf, geht dann, um mit dem Bären zu kämpfen. Die Lehrerin stört das nicht. Sogar wenn er Unverständliches brabbelt und genüsslich Brösel auf seinem Pulli verteilt - kein Problem. Dass die Kinder nicht vom Storch kommen, das wissen sie längst in der Abschlussklasse der Rudolf-Steiner-Schule in Wien-Mauer. "Da bin ich schon hart" Seth-Moses wurde vor kurzem ein Jahr alt - und besucht die Steiner-Schule seit Beginn des Schuljahres. Als Klassenbaby und Sohn der Schülerin Marie Louise. Wie das die Lehrerin findet? "Da bin ich schon hart. Das hat zu funktionieren. Was gibt es denn Natürlicheres und Lebensnäheres als ein Kind?" Eine Härte, die gegenüber den Schülern der 12. Klasse (entspricht der 8. Schulstufe eines Gymnasiums) auch gar nicht nötig war. "Wir haben das vorher besprochen - aber eine Diskussion war das nie", berichtet ein Mitschüler. "Moses wächst jetzt einfach in einer riesigen Großfamilie auf und fühlt sich pudelwohl." So, wie sich auch alle anderen nun wohler fühlen. "Die Klassengemeinschaft hat sich im letzten Jahr nur zum Positiven verändert", ist die einhellige Schülermeinung. Und Seth-Moses sei "ein angenehmer Gegenpol zu dem, was sonst so läuft in der Klasse". Was das ist, wird auch nicht diskutiert - zumindest jetzt nicht, über die Zeitung. Dafür ist die Abschlussreise im Juni bereits Gesprächsthema; auf den Tischen liegen Frankreich- und Spanien-Prospekte herum. Und die Schüler rufen bei Jugendherbergen an, fragen, ob sie auch kinderfreundlich sind. Denn Seth-Moses wird selbstverständlich mitfahren. Der wird übrigens auch Ferdinand Joseph XII. genannt - "vermutlich wegen des Haarschnitts". Und Marie Louise ist ebenfalls beim Zukunftplanen. "Die Matura werd' ich nicht machen", weiß sie schon jetzt. "Eher eine Kunstschule besuchen und etwas Sozialpädagogisches - aber ich weiß noch nicht, ob der Chef der Kunstschule einverstanden ist, wenn Seth-Moses mitkommt." Dass auch andere so überraschend reagieren wie die Lehrer an der Steiner-Schule, kann man schließlich nicht voraussetzen. Inzwischen hat die Gehschule in der Klasse nur noch symbolischen Charakter - und das Kleinkind wieselt ganz selbstverständlich herum. Am liebsten mit dem Mistkübel und dem Besen. Der Kleine ist schon so schwer, dass ihn die Lehrer nur noch selten beim Unterrichten auf den Arm nehmen und herumtragen. Dass Seth-Moses da ist, ist schon lange kein Thema mehr. Derzeit ist es eine andere "Sensation": Seit kurzem trägt eine der Schülerinnen den Titel "Miss Bonbon". Tara teilt in der Pause Süßigkeiten aus, mit denen sie am Bonbon-Ball auf- gewogen worden war. "Bitte nicht für Moses", wehrt Marie Louise ab. (Roman Freihsl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. Februar 2002)