Welt
Wunderbarer Klangatlas
Über die Musik ethnischer Minderheiten
Vielleicht kennen Sie das Gefühl: Sie sind in einer Gesellschaft, die nicht nur aus "waschechten" - welch blöde Metapher - Österreichern besteht, und irgendwann beginnen die nicht ganz so waschechten zu singen, und es klingt wie ein fremder, trotzdem seltsam vertrauter Zauber, wie etwas, das aus einer allen verständlichen Sprache stammt, die sich erst allmählich in verschiedene Grammatiken entwickelt hat. Wenn, zum Beispiel, die süße, kleine Marijana auf dem Weg zu ihrem ersten Rendezvous besungen wird, so ist das auch dem geläufig, der den kroatischen Text nicht versteht.Die aus Niederösterreich stammende Musikethnologin Ursula Hemetek hat ihre Habilitationsschrift zum kleinsten Teil diesem und ähnlichen Rezeptionsphänomenen gewidmet. Zum kleinsten deshalb, weil das knapp 600 Seiten umfassende Werk Mosaik der Klänge eine viel weiter gefasste, detaillierte und grundlegende Aufzeichnung einer anderen, aber nur auf erste Hinhören fremd scheinenden Welt ist. Hemetek ist ein faszinierender Wurf gelungen, sicher auch deshalb, weil sie sich mit von Kindheit an erprobter neugieriger Hartnäckigkeit auf eine Exkursion eingelassen hat, die sie tiefer und tiefer bis an die Ursprünge der Musik ethnischer "Minderheiten" und damit auch an die Wurzeln ihrer Kultur, ihrer Herkunft geführt hat. Und das mit einer Akribie, zu der nur eine große Liebe oder an Penetranz grenzender Perfektionismus beflügeln kann, wobei von der ersten Zeile an klar ist: Es kann nur Liebe sein. Um dies am eingangs erwähnten Beispiel darzustellen: Hemetek belegt nicht nur, woher das Lied kommt ("burgenländisch-kroatische volkstümliche Lieder und Schlagerlieder"), sie führt nicht nur den Text (samt Übersetzung) und die Melodie an, sie erläutert auch, welche Funktion solche Lieder für die Identitätsbildung der Ethnie haben und was sie für das Selbstbild, die Selbsterkenntnis der Volksgruppe leisten können. Das gelingt nicht nur im Fall einer einzelnen, sozusagen "klassischen" und traditionell stark verwurzelten Volksgruppe, sondern auch in der Beschreibung immer weiter ausfächernden "modernen" Minderheiten, wie beispielsweise Migranten und Flüchtlingen im urbanen Raum, deren Musik in einem Ausmaß existentielle Bedeutung hat, die wir zufällig glücklicher Geborene überhaupt nicht ermessen können.
Abgesehen von der unschätzbaren Leistung, ein grandioses Kompendium musikalischer Ausdrucksformen erstellt zu haben, gibt Hemetek auch eine Einführung in die Geschichte ethnischer Minderheiten sowie einen Abriss zur Begriffsgeschichte, die keinen Vergleich mit der einschlägigen Fachliteratur scheuen muss - ein in jeder Hinsicht großes Buch. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 2. 2002)