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"Am 1. Juli 1764 wurde im Vivarais, in den östlichen Ausläufern der Cevennen, der halb zerfleischte Körper eines vierzehnjährigen Mädchens gefunden; bald darauf häuften sich die Fälle im westlich angrenzenden Gévaudan: im August wieder ein Mädchen in Puy-Laurent, dann ein kleiner Junge in le Cheylard, ein weiterer in Pradels, eine 36-jährige Frau in Arzenc-de-Randon; Ende September drei Kuhhirten, darunter zwei zwölfjährige Mädchen." So beginnt der französische Zoohistoriker Robert Delort in seinem Buch "Der Elefant, die Biene und der heilige Wolf - Die wahre Geschichte der Tiere" seinen Bericht über das "Untier von Gévaudan". Zurzeit sorgt ebendieses Untier im Kino für Unterhaltung: Im Kostüm-Gruselthriller "Pakt der Wölfe" wird die Geschichte der rätselhaften Mordserie in der französischen Provinz in den 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts erzählt - natürlich wurde den historisch belegten Ereignissen nachgeholfen, mit Verschwörungen, Eifersuchtsdramen und einem exotischen Irokesen-Krieger. Doch die Antwort auf die Frage, ob die "Bestie von Gévaudan" wirklich ein Wolf war oder nicht etwa doch ein Werwolf, bleibt man uns im Kino schuldig. Sinnloses Gemetzel Diese Frage muss auch Delort offen lassen, er kann nur auflisten, dass zum Beispiel am 11. Februar 1765 dreitausend Männer zu einer Treibjagd antraten, die zwar einige Grauwölfe das Leben kostete, aber ansonsten nur Felder und Gärten verwüstete. Bis zum Sommer 1767 wurden vom "Untier" 101 Menschen grausam getötet und rund 200 Wölfe erlegt. Dann war Schluss mit dem Morden - und wenig später auch mit dem Wolf in Frankreich. Für Delort markiert die Jagd auf die "Bestie von Gévaudan" jenen Augenblick, in dem der Wolf endgültig zum "bösen Wolf" wurde. Tatsächlich war das Verhältnis des Menschen zum Wolf immer ambivalent: Noch heute gebräuchliche Namen wie Wolfgang oder Rudolf erinnern ans einst positive Image von Isegrim, dem Wolf. Nicht zu vergessen die Sage von der Gründung Roms: Romulus und Remus wurden bekanntlich von einer Wölfin großgezogen. Doch der Wolf hat nicht nur geholfen, Rom zu begründen, sondern die gesamte menschliche Zivilisation: Er wurde von allen Tieren als Erstes zum Haustier, wahrscheinlich schon vor rund 100.000 Jahren. Archäologische Beweise, Knochenfunde in Deutschland, der Ukraine und im Irak, liegen zwar erst fürs elfte oder zehnte Jahrtausend vor Christus vor. Doch genetische Berechnungen zeigen, dass die Veränderungen im Erbgut, die Hunde von Wölfen unterscheiden, schon Jahrzehntausende früher ihren Anfang genommen haben müssen. Vom Wolf zum Hund Der Wolf mag selbst die Nähe der Menschen gesucht haben, etwa um sich von den Abfällen ihrer Lager zu ernähren. Die ersten "Wolfshunde" waren wahrscheinlich Wolfswelpen, die von den Steinzeitjägern und -sammlern adoptiert wurden. Vermutlich wurden sie sogar von Menschenfrauen gesäugt - noch heute werden junge Säugetiere bei manchen so genannten "Naturvölkern" an die Mutterbrust genommen. Mensch und Wolf haben viel gemeinsam. Sie sind hoch sozial organisiert, leben in hierarchischen Rudeln. Wie Menschen verfügen auch Wölfe über eine facettenreiche Mimik, was das Verständnis zwischen beiden Arten erleichtert haben dürfte. Der Wolf-Hund machte sich nützlich: als Lagerwächter, Jagdgehilfe, Spielgefährte für die Kinder, als Wärmequelle für kalte Nächte. Manche Wissenschafter sprechen sogar von einer Koevolution zwischen Mensch und Wolf-Hund: erst mithilfe des immer mehr zum Hund werdenden Wolfs konnte der Mensch vom Steinzeitjäger zum Ackerbauern und Viehzüchter werden. Übergriffe von Wölfen auf Menschen sind kaum belegt, selbstverständlich "vergriffen" sich die Wölfe aber am Vieh - und am Wild, das mit fortschreitender Zivilisation ebenfalls als menschliches "Eigentum" betrachtet wurde. Hunde, domestizierte Wölfe, besiedelten mit dem Menschen auch die entlegensten Ecken der Erde; für den Wolf, den Stammvater des "besten Freundes des Menschen", blieb immer weniger Raum. Im 19. Jahrhundert war der Wolf im Alpenraum ausgerottet. Einzelne Tiere tauchten aber als Zuwanderer immer wieder auf - und wurden prompt zur Strecke gebracht. Gegebenenfalls wurde das "freudige Ereignis" sogar auf Postkarten gefeiert. Ende Jänner dieses Jahres wurde im Salzkammergut ein Wolf "erlegt", er muss aus Slowenien oder Tschechien auf uralten Wechseln eingewandert sein - wie unser erster Ötscherbär in den 80er-Jahren. Mit dem Bären scheint man sich bei uns angefreundet zu haben. Aber mit dem Wolf? In Rumänien wurde der Wolf nie ausgerottet, und auch das Beispiel der Abruzzenwölfe in Italien zeigt, dass das Zusammenleben von Wolf und Mensch bis heute in Mitteleuropa möglich ist. Auch in Österreich wären die ökologischen Bedingungen fürs Überleben des Wolfs nach wie vor vorhanden - und dass auch die Wölfe diesen Lebensraum nutzen wollen, zeigt jener Isegrim, der vor wenigen Wochen von einem übereifrigen Jäger erschossen wurde. Bleibt zu hoffen, dass der nächste Zuwanderer im Wolfspelz geduldet wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 2. 2002)