Prag/Budapest/Preßburg - Der Konflikt um die Benes-Dekrete, der vom ungarischen Premier Viktor Orban angeheizt worden ist, hat die so genannte Visegrad-Gruppe gesprengt, der Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Polen angehören. Der Vier-Staaten-Gipfel, der am 1. März in Budapest stattfinden sollte, ist geplatzt, nachdem die Regierungen in Prag und Preßburg ihre Teilnahme abgesagt haben. Sie protestierten damit gegen Äußerungen Orbans, der in Brüssel die Aufhebung der gegen die deutschen und ungarischen Bevölkerungsteile gerichteten Enteignungs- und Vertreibungserlässe der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert hat, weil diese mit EU-Recht unvereinbar wären. In Tschechien hat die oppositionelle konservative Demokratische Bürgerpartei (ODS) des Unterhausvorsitzenden Vaclav Klaus eine "Sicherung" im EU-Beitrittsvertrag verlangt, welche die Gültigkeit der Benes-Dekrete garantieren würde. Staatspräsident Vaclav Havel schloss eine Rückgabe von Eigentum an vertriebene Sudetendeutsche als "unmöglich" aus. Klaus wies auch die Idee einer eventuellen Entschädigung für sudetendeutsche Antifaschisten zurück. Ministerpräsident Milos Zeman und sein slowakischer Kollege Mikulas Dzurinda gaben ihren Gipfel-Boykott bekannt. Bei dem Treffen in der ungarischen Hauptstadt sollten die vier EU-Beitrittsanwärter über Angebote Brüssels für Agrarsubventionen beraten. "Es zeichnet sich eine Achse München-Wien-Budapest ab", warnte ODS-Vizechef Miroslav Benes gegenüber der Prager Tageszeitung "Pravo". Es habe sich bestätigt, "dass keine Visegrad-Gruppe existiert". Der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei der Slowakei, Rastislav Blazko, sprach von einem Versuch, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu korrigieren: "In Mitteleuropa formiert sich die Achse des Extremismus: Jörg Haider und Edmund Stoiber hat sich jetzt auch Viktor Orban angeschlossen". Auch der tschechische Außenminister Jan Kavan sagte zu den Äußerungen Orbans, die "Front der Gegner" habe sich nun ausgeweitet; "bisher waren diese Töne vor allem in München und Wien erklungen". Orban betonte am Samstag, die Frage der Benes-Dekrete sei "kein ungarisch-slowakisches oder ungarisch-tschechisches, sondern ein europäisches Problem, weil es die Menschenwürde und Menschenrechte berührt". Die Dekrete basierten auf der "These der Kollektivschuld". Kandidatenländer dürften nicht "Animositäten und Streit" in die EU tragen, erklärte der sozialdemokratische Fraktionsgeschäftsführer im Europäischen Parlament, Hannes Swoboda, der mit Hinweis auf Orban und Klaus die Konservativen beschuldigte, das Feuer zu schüren: "Der nationalistische und antieuropäische Stil konservativer Parteiführer in Europa wird immer deutlicher". Die Rechte appelliere an chauvinistische Gefühle und stehe damit im krassen Gegensatz zu einer europäischen Gesinnung. Ohne einen "klaren Standpunkt der europäischen Institutionen" könnten sich die Streitigkeiten um die Benes-Dekrete als "Beitrittshindernis bzw. als Beitrag zu einer Vergiftung des Klimas im mitteleuropäischen Raum herausstellen". EU-Erweiterungskommissär Günter Verheugen hatte erklärt, die Benes-Dekrete hätten keinerlei Bezug auf die Integration Tschechiens in die EU, und er könne auch für die Zukunft keinen solchen Bezug erkennen; es sei nicht das Europäische Parlament, das die Beitrittsverhandlungen führe. Tschechien lehnt nach den Worten von Außenminister Kavan die von Österreich initiierte "Regionale Partnerschaft" ab. Tschechien wolle mit allen Ländern in Mitteleuropa kooperieren, sei aber gegen die Bildung neuer Institutionen, sagte Kavan in Brüssel. Die Österreicher hätten "selbst zugegeben, dass an der Partnerschaft nichts strategisch ist". Es wäre "naiv, sich eine regionale Partnerschaft unter österreichischer Führung" vorzustellen. (APA)