von Ronald Pohl
Wien - Immer dann, wenn es dem Theater zu wohl wird, durchstößt es mit dem peinlich entblößten Moralzeigefinger die Mattscheibe:

Seht her, ruft es mit sich überschlagender Stimme, da drinnen sitzen die technologisch ausgebufften, hoch bildauflösenden Simulationsverbrecher, die unser wahres Leben ausweiden, es in Spielshows pferchen, das reale Elend in Konsumangebote übersetzen und noch nicht einmal die wortlose Bestürzung der Kriegsgeschädigten als Erfahrung achten.

Eitle Kriseninterventionen des Theaters

Ausgerechnet die Verstopfer der Bildkanäle sollen also die peinliche Entblößung der theatralischen Szene-Verwahrloser verantworten - auch das ein sicheres Zeichen dafür, dass es dem Theater vielleicht doch deutlich schlechter geht, als es seine eitlen Kriseninterventionen vermuten lassen.

Denn auch das Wiener Schauspielhaus begnügt sich anlässlich der Uraufführung des herzzerreißend erbärmlichen Politoratoriums Jerusalem, mon amour von Saleh Bakri/Airan Berg/Aida Karic mit medialer Pauschalkrittelei. Ein Israeli (Airan Berg) und ein Palästinenser (Joao de Bru¸có) liegen bis zum Hals im Sand eingegraben und werfen einander unter mildtätiger Übersetzungshilfe einer Gehörlosendolmetscherin, die wie Claudius' Mond über der Szene thront, zermürbende Fragen an die scharf geschorenen Sturköpfe.

Protagonisten in Feinripp-Unterwäsche Ob der Islam eine "brutale Religion" sei, fragt der eine; ob Israel ein "faschistischer Staat" sei, der andere. Becketts erdeingewühlte Ablebenskünstler grüßen über der Oase. Und weil noch die beschämendste Gegenwart, etwa die der wechselseitigen Gewalt, die Palästinenser und Israelis einander ohne Unterlass antun, zur wohlfeilen Medien- kritik taugt, spielen die zwei Protagonisten in Feinripp-Unterwäsche das Elend der sandaufwühlenden Querulanten, die doch nur Game-Boys sind und Opfer. Darüber säuseln Jingles, schwatzt ein Moderatoren-Ich (Alexandra Schmid). Steht es einer Gesellschaft wie der unseren, im schnöden Wien nicht nur Karl Luegers, an, über die Verstocktheit der beiden mild zu lächeln? Die Köpfe zu schütteln? Die Gewalt, die sich ungebremst entlädt, als Produkt medialer Einflussnahme zu geißeln? Ist das zu viel gefragt? Der Rest ist weißes Rauschen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.03. 2002)