Wenn es um die Erfassung der baugeschichtlichen Phänomene geht, dann fällt in der Fachwelt sehr rasch der Name Otto Antonia Graf. Am Dienstagabend wurde zum 65. Geburtstag des Kunst- und Kulturhistorikers im Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste in Wien ein Fest gegeben und Grafs Arbeit gewürdigt. Die Einheit der Kunst. Weltgeschichte der Grundformen heißt das 1990 erschienene Basiswerk, das einen Überblick über die Strukturen und Transformationen der Baukunst bietet. Zwei Architekten aber sind es, die Graf besonders fasziniert haben. Der Österreicher Otto Wagner und der Amerikaner Frank Lloyd Wright, dessen Schaffen in drei Bänden dargestellt wurde und über den auch eine Ausstellung im Kupferstichkabinett Auskunft gibt. Grafs gewaltigstes Opus aber ist die siebenbändige Wagner-Ausgabe, die ebenso wie alle anderen Bücher im Böhlau-Verlag erschienen ist. Otto Wagner (1841-1918) hat an der Wende zum 19. Jahrhundert das Wiener Stadtbild durch seine Hochbauten zur Stadtbahn enorm geprägt. Die Wagner-Villen, die Kirche am Steinhof, die Postsparkasse sowie zahlreiche exemplarische Büro- und Wohnmaschinen haben bis heute Einfluss auf die internationale Architektur. Grafs Analysen halten sich nicht bei Beschreibung und Bewertung von Architektur auf, sondern sind als Gesamtsicht auf die Geburt der modernen Architektur im Wien zwischen Traum und Wirklichkeit zu verstehen: zuerst durch die Auseinandersetzung, dann durch die Überwindung des Historismus wie er von Wagners Lehrern und Erbauern der Wiener Oper, Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg vertreten wurde. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 3. 2002)