Richard Reichensperger

Die Überraschung für alle, die ab Montag im Semperdepot die nun in Wien eingetroffene Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944 sehen werden: Kaum etwas ist gleich geblieben gegenüber der 1999 vom Initiator Jan Philipp Reemtsma (nach Kritik am Bildmaterial) aus dem Verkehr gezogenen Ausstellung, die seit 1995 in 33 deutschen und österreichischen Städten unter 900.000 Besuchern für Aufregung gesorgt hatte. Woher die Aufregung und was sind die neuen Akzente?

"In der Debatte über die Rolle der Wehrmacht läuft jeder Teilnehmer, anders als bei der um die Rolle der Industrie und der Banken, Gefahr, die eigene Familiengeschichte zu thematisieren", fasste Reemtsma in seinem Essayband Wie hätte ich mich verhalten? (C. H. Beck, 2001) zusammen.

Und trifft damit den Kern: Dass seit 1995 über etwas massiv, auch innerhalb der Familien und Generationen, gesprochen wurde, was lange Zeit nur als Familienschweigen vorhanden war: die Beteiligung einfacher Soldaten an Kriegsverbrechen im Osten und Südosten Europas. In einem Krieg, der - so wird dokumentiert - schon vor 1941 als ideologischer Vernichtungskrieg, gelöst von jedem Kriegsrecht, geplant worden war.

Die Neugestaltung unternimmt nun alles, um die Emotionalisierung vonseiten "unschuldiger kleiner Soldaten" sachlich zu unterwandern: Neu ist etwa ein Abschnitt über russische Kriegsgefangene (für welche die Wehrmacht allein ver-antwortlich war: über drei Millionen starben), neu auch ein Abschnitt über den "Ernährungskrieg" der, via Aushungerung der sowjetischen Zivilbevölkerung, im Osten geführt wurde. Es gibt keine unkommentierten Bildstrecken mehr, die Schuld der Heeresleitung wird hervorgehoben. Die Ausstellungsmacher betonen auch, dass das Heer ein Zwangsverband war: Sie vermeiden pauschale Schuldzuweisung.

Handlungsspielräume

Aber gleichzeitig wird eine ethische Fragestellung verschärft gestellt, die nach den Möglichkeiten, sich innerhalb von "Befehl" verschieden zu verhalten, fragt: Ein neuer, großer Abschnitt zeigt "Handlungsspielräume". Es ist der wichtigste Teil und hievt die Debatte auf eine neue Ebene, weg von Polemik, hin zur Frage: Wie hätte ich mich verhalten sollen?

Ein Befehl, drei Ausführungen: An einem Beispiel aus dem I. Bataillon des 691. Infanterieregiments in Weißrussland wird die Ausweitung des Partisanenbegriffs auf Zivilbevölkerung und Juden demonstriert ("Der Jude ist der Partisan, der Partisan ist der Jude") - und die Möglichkeit, sich einem Befehl - alle Juden eines Dorfes seien als Vergeltungsmaßnahme zu erschießen -, gegenüber verschieden zu verhalten:

Einer von drei Kompanieführern setzt ihn eilfertig um; ein anderer verweigert ihn: Er könne, so Josef Sibille, den Zusammenhang zwischen Partisanen und Juden nicht erkennen; überdies gefährdeten die Juden in seinem Bereich - Greise, Frauen, Kinder - keineswegs die Truppen: Es "passiert" ihm nichts. Der dritte Kompanieführer zögert und bittet um schriftliche Bestätigung: Sie erfolgt - die Juden des Ortes Krutscha seien zu erschießen, eine Weigerung wäre Befehlsverweigerung. Ein Soldat schießt "daneben".

Dieser und viele andere in der Ausstellung in Bild und Schrift dokumentierten Einzelfälle führen auf grundlegende Fragen, die in der Auseinandersetzung zwischen Generationen eine Rolle spielen. Sie sollten auch den Blick auf die neue Ausstellung steuern. Das Hauptargument der Kriegsgeneration: Nur wer dabei war, könne mitreden. Jan Philipp Reemtsma hat sich damit schon vor einigen Jahren in einem Essay auseinander gesetzt. Man sollte, durch die Schau gehend, seine Argumente memorieren:

Erstens, so Reemtsma: Wenn nur wer dabei war, urteilen dürfe, dann wären das in einem Gerichtsfall Täter und Opfer, bei einem Mord bliebe also nur die Täterperspektive übrig: eine absurde "Lösung". Zweitens: Geschichtsschreibung beginnt, wo das Vertrauen auf Zeitzeugen kritisch und differenziert geprüft werden kann: Das ist ein methodischer Zweifel, kein persönlicher. Drittens: Es gibt sicherlich extreme Situationen (wie etwa die obige in Befehlskonflikten): Das heißt aber noch nicht, dass wegen der Belastungen auch die konkreten Entscheidungen moralisch neutral werden.

Dieses dritte Argument ist wohl eines der wichtigsten: Denn meist wird die Ebene der Fakten gleichgesetzt mit der des Sollens. Aber die Tatsache von Extremsituationen heißt nicht, dass man nicht nachdenken darf, wie man hierin handeln soll. Bei der nachträglichen Beurteilung kann die Schwierigkeit "edlen" Verhaltens in extremen Zeiten als Milderung beigezogen werden, aber: "Zunächst muss die Handlung qualifiziert werden, dann mögen die besonderen Umstände der Handlung als mildernde bewertet werden. Der umgekehrte Weg", so Reemtsma, "ist nicht gangbar."

Es lässt sich von jedem verlangen, dass er kein Mörder wird, dass er niemanden denunziert oder verrät. Wenn es unter extremem Zwang dennoch geschieht, ändert das Faktum nichts an der Möglichkeit, es ethisch anders zu beurteilen.

(DER STANDARD, Print, Sa./So. 6.04.2002)