Peter Lachnit: Jan Philipp Reemtsma, als Sie sich mit 27 Jahren Ihren Anteil als Hauptgesellschafter der Tabakfirma Reemtsma ausbezahlen ließen und aus dem Unternehmen ausschieden - war Ihnen da schon klar, dass Sie mit diesem Geld ein Institut gründen wollten? Jan Philipp Reemtsma : Na ja, das Ziel war schon klar. Allerdings hat es zunächst als eine Art Projektförderungseinrichtung angefangen, erst einige Jahre später ist daraus ein Institut geworden. Die Bezeichnung "Hamburger Institut für Sozialforschung" sollte signalisieren, dass es keine Festlegung auf eine bestimmte akademische Disziplin wie die Geschichtsschreibung, Ökonomie oder Soziologie gibt. Lachnit: Die Themen, die in den ersten Jahren des Instituts behandelt wurden, lagen ja eher am Rand des wissenschaftlichen Mainstreams. Es ging um gesellschaftliche Gewalterfahrungen, um Protestbewegungen in Deutschland, aber auch um Stalinismus-Forschung. Reemtsma: Am Anfang der Institutsarbeit stand die Vorstellung, es würde benennbare Lücken geben, die man füllen könnte. Heute würde ich sagen, dass sich ein solches Institut dadurch rechtfertigt, dass man einige Themen mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt und entweder etwas Neues zum Forschungsstand hinzufügt oder dazu beiträgt, dass über bestimmte Themen anders geredet wird als bisher. Lachnit: Ihr Institut hat wesentlich dazu beigetragen, bei der NS-Forschung den Fokus von den Opfern zu den Tätern verlagern. Die Wehrmachtsausstellung hat ja wohl auch deshalb so eingeschlagen, weil sie nicht nur eine wissenschaftliche Ausstellung war, sondern auch eine geschichtspolitische Intervention. Reemtsma: Als wir die erste Ausstellung gemacht haben, ist es uns nicht in erster Linie um eine solche Intervention gegangen. Keiner von uns Ausstellungsmachern hat diese Wirkung in der Öffentlichkeit vorausgesehen. Dass wir da so unvorbereitet in eine geschichtspolitische Auseinandersetzung geraten sind, das hat die Beteiligten hier im Haus teilweise auch überfordert. Lachnit: Sie haben ja die erste Ausstellung 1999 zurückgezogen, nachdem gegen einige der verwendeten Bilder Fälschungsvorwürfe erhoben worden waren. Und Sie haben eine Kommission prominenter Historiker eingesetzt, die die Richtigkeit der Grundaussage der Ausstellung bestätigt, aber eine Überarbeitung empfohlen hat. Sie haben sich aber überhaupt für eine Neugestaltung der Ausstellung entschieden. Haben Sie damit nicht der Kritik in gewisser Weise Recht gegeben? Reemtsma: Ich habe das Moratorium als Chance genutzt, bestimmte Dinge zu ändern, die ich selber auch als Mangel der ersten Ausstellung empfunden habe. Sie hat etwa keinen Bezug auf die völkerrechtliche Situation im Zweiten Weltkrieg genommen. Doch es hat auch vor 1945 völkerrechtliche Standards gegeben, die aber für die Wehrmacht bewusst außer Kraft gesetzt worden sind. Das steht jetzt am Beginn der Ausstellung. Die zweite Neuerung ist die Relativierung des Satzes, dass ein Krieg wie eine Maschine abläuft und der Einzelne nur ein Rädchen in ihr ist. Auch im Kriegsgeschehen werden Entscheidungen getroffen, und sie werden unterschiedlich getroffen. Das wird jetzt im Raum "Handlungsspielräume" behandelt (vgl. die Titelgeschichte). Und drittens war es nach meinem Verständnis notwendig, dass auch die Diskussion um die erste Wehrmachtsausstellung thematisiert wird, damit sie ihren eigenen historischen Ort markieren kann und der Besucher nicht das Gefühl hat, dass hier etwas unter den Teppich gekehrt werden soll. Lachnit: Wenn man die Reaktionen auf die neu gestaltete Wehrmachtsausstellung durchliest, hat man den Eindruck, dass diese Ausstellung jetzt viel weniger polarisiert als die erste. Heißt das, dass die These von der Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert ist? Reemtsma: Ja, ich denke, dass das so ist. Man muss einfach sehen, dass über dieses Thema nicht mehr so geredet werden kann wie noch vor zehn Jahren. Dazu hat natürlich nicht nur die Ausstellung beigetragen, sondern auch all die Veranstaltungen und die vielen Diskussionen, die darüber geführt worden sind. Dieses Thema hat die Gemüter über Jahre erregt, und in diesen Debatten hat sich der Blick auf dieses Moment der deutschen und österreichischen Vergangenheit geändert. In der zweiten Ausstellung kann man jetzt noch einmal nachsehen, auch und gerade im Detail - und schöner wird das Bild der Wehrmacht dabei jedenfalls nicht. Lachnit: Es gibt Stimmen, die die Textlastigkeit der neuen Ausstellung kritisieren. Da ist von einer "fast unterkühlten Sachlichkeit" die Rede, von einer Ausstellung "von Professoren für Professoren", von einem "affichierten Buch". Haben die Ausstellungsmacher vor lauter Bemühen um Differenzierung da über das Ziel geschossen? Reemtsma: Es gibt die Ängstlichkeit bei Museumspädagogen und Ausstellungsmachern, das Publikum zu überfordern. Tatsächlich heißt aber "lernen" definitionsgemäß immer: überfordern. Und wir haben uns von solchen Einreden nicht beirren lassen. Das Ausstellungsdesign von Andreas Heller macht dem Zuschauer klar, dass er auswählen kann. Er hat die Chance, sich relativ schnell grob zu informieren, und er kann dann auswählen, wo er ins Detail gehen möchte. Er muss nicht alles lesen, aber er kann. Und die Leute lesen das. Lachnit: Haben Sie bei der Aufnahme der Wehrmachtsausstellung Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich wahrgenommen? Reemtsma: Die große Kontroverse hat in Österreich begonnen. Da gab es zum ersten Mal das Phänomen, dass die Kritik an der Ausstellung durch besonders großen Zulauf beantwortet wurde - mit demonstrativer Beteiligung von politischer und literarischer Prominenz. Es war interessant, dass die Wogen dort besonders hoch gegangen sind. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass es anders als in Deutschland in Österreich eine relativ aktive Veteranenbewegung gibt. Diese Kameradschaften konnten unter der Selbstdefinition Österreichs als dem ersten Opfer des Nationalsozialismus entstehen, sie haben sich dadurch nicht auf der Täterseite gesehen und hatten auch ein viel ungebrocheneres Verhältnis zu dieser militärischen Tradition - bis hin zur SS. Lachnit: Planen Sie in der Zukunft ein ähnliches Großprojekt wie die Wehrmachtsausstellung? Reemtsma: Die Wehrmachtsausstellung hat wegen ihres Erfolgs und dann auch wegen ihrer Krise sehr viel Zeit und viele finanzielle und personelle Ressourcen gebunden. So etwas werden wir so schnell nicht wieder machen. Das war auch nie geplant gewesen, das ist eigentlich ein untypisches Medium für ein solches Institut. Aber dass mir die Frage häufig gestellt wird, zeigt mir, dass das Hamburger Institut für Sozialforschung ein Ort ist, von dem man etwas erwartet - und etwas Besseres kann man doch von einer wissenschaftlichen Einrichtung nicht sagen. Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" wird vom bis zum 26. Mai im Atelierhaus der Akademie der Bildenden Künste in Wien (ehem. Semperdepot) gezeigt; täglich 10-18 Uhr, Do bis 21 Uhr. Zwei Highlights aus dem Begleitprogramm: Eine "Wiener Vorlesung" des Historikers Hans Mommsen über "Der besudelte Ehrenschild der Armee - Die Mitwirkung der Wehrmacht am Völkermord des NS-Regimes" (22. April, 19 Uhr, Festsaal im Wiener Rathaus) sowie ein Vortrag von Jan Philipp Reemtsma: "Der Begriff Handlungsspielräume" (16. Mai, 18 Uhr, Aula im Campus, Altes AKH). (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 06./07.04.2002)