"Der Cyberspace ist kein Ort, sondern ein Dialog der Kulturen"
John Perry Barlow zur Krise der Internet-Verwaltung - Dezentralisierung der ICANN vorgeschlagen
Redaktion
,
Sechs Jahre nach seiner
"Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace" ist Internet-Aktivist
John Perry Barlow mit einem neuen Denkstück an die Öffentlichkeit
getreten: Mit seinem
"Manifest von Accra"
- benannt nach dem jüngsten
Tagungsort des Internet-Verwaltungsorgans
ICANN
- will er Anstöße
geben, um die Organisation aus ihrer tiefen Krise zu führen. Seine
wichtigste Botschaft: Die ICANN muss so dezentral organisiert sein
wie das Internet.
"Ein merkwürdiges Zwitterwesen"
Die "Internet Corporation for Assigned Names and Numbers" ist ein
merkwürdiges Zwitterwesen, wie es sonst kein zweites Mal in den
internationalen Beziehungen vorkommt. 1998 vom
US-Wirtschaftsministerium eingesetzt, soll die ICANN vor allem die
Internet-Adressen verwalten und entscheiden, welche Stellen für die
Registrierung dieser immer nur ein einziges Mal zu vergebenen
"Domains" verantwortlich sind.
Internet-Nutzer wählten fünf Direktoriumsmitglieder
Die 19 ICANN-Direktoren - meist Fachleute von Firmen, die wie
Worldcom oder British Telecom im Geschäft der weltweiten Vernetzung
zuhause sind - folgen nicht den Weisungen irgendwelcher Regierungen,
sondern sollen unabhängig von diesen für das Wohl des globalen
Computernetzes sorgen. Fünf der 19 Direktoriumsmitglieder wurden im
November 2000 nach einem umstrittenen Verfahren von den
Internet-Nutzern gewählt - zu ihnen gehören der Amerikaner Karl
Auerbach und der Deutsche Andy Müller-Maguhn, die beide wiederholt
einen zu starken Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die ICANN
kritisiert haben.
Auf Wahlen soll in Zukunft verzichtet werden
Das Mandat der gewählten ICANN-Direktoren läuft im November ab. In
Accra beschloss das Direktorium Mitte März, künftig auf Wahlen zu
verzichten und die Benutzerbeteiligung in anderer Form
sicherzustellen. Nach einem Vorschlag von ICANN-Geschäftsführer
Stuart Lynn sollen aber die Regierungen künftig größeren Einfluss auf
die Nominierung der Direktoren bekommen - nach dem Vorbild der
Internationalen Union für Telekommunikation (ITU), der 187
Mitgliedsstaaten angehören und die offenbar nur zu gerne die Aufgaben
von ICANN übernehmen würde.
Weitgehende Dezentralisierung gefordert
Für einen anderen Weg plädiert Barlow, Mitbegründer der Electronic
Frontier Foundation (EFF) in den USA. In einem an die
ICANN-Direktoren geschickten "Manifest von Accra" schlägt er eine
weitgehende Dezentralisierung der Internet-Selbstverwaltung vor.
Deren Träger müssten Nutzergemeinschaften rund um die
Top-Level-Domains (TLD) im Internet sein - also Domain-Bereiche wie
de (Deutschland), ch (Schweiz), at (Österreich), com (kommerzielle
Anbieter) oder die neue info-TLD für Informationsangebote aller Art.
Unterstützung von Müller-Maguhn
Dies unterstützt auch der deutsche ICANN-Direktor Müller-Maguhn,
der in Accra an der Erstellung von Barlows Manifest beteiligt war.
"Für mich ist entscheidend, dass die Vernetzung von Benutzern voran
kommt, um digitale Bürgerrechte in den Datennetzen zu verwirklichen",
sagte Müller-Maguhn der Nachrichtenagentur AP. Solche Gruppen und
Kontexte könnten dann auch außerhalb von ICANN zur Gestaltung der
Netzgemeinden zusammenwirken.
Internet immer noch zu sehr von den USA geprägt
"Die ICANN ist überzentralisiert", kritisiert Barlow in der
dritten von 15 Thesen. Zudem trage der Sitz im kalifornischen Marina
del Rey ebenso wie der große Einfluss amerikanischer Firmen zu dem
gefährlichen Irrglauben bei, dass es sich beim Internet um eine
Angelegenheit der USA handle.
"Cyberspace, das Zuhause des Geistes"
Wenn jetzt die Regierungen mehr Gewicht erhalten sollen, würde
dies die Nationalstaaten in einen Bereich bringen, "in dem sie keine
natürliche Souveränität haben", erklärte Barlow - in unterschwelliger
Anspielung an seinen Appell von 1996 mit den Anfangsworten:
"Regierungen der industrialisierten Welt, ihr trägen Giganten aus
Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause
des Geistes. Im Dienste der Zukunft verlange ich von Euch, die Ihr
aus der Vergangenheit seid, uns in Frieden zu lassen. Ihr seid unter
uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, habt Ihr keine Hoheit."
"Der Cyberspace ist kein Ort, sondern ein Dialog der Kulturen"
Das Accra-Manifest des ehemaligen Song-Schreibers der Rockband
Grateful Dead kommt nicht mehr ganz so libertär-pathetisch daher wie
die Unabhängigkeitserklärung von 1996, ist aber immer noch von der
gleichen Überzeugung getragen. "Der Cyberspace ist kein Ort, sondern
ein Dialog der Kulturen", schreibt Barlow in der Zusammenfassung
seiner Erklärung. Nur wenn diesen Werten des kulturellen Austauschs
mit den Mitteln der elektronischen Kommunikation Rechnung getragen
werde, könne die ICANN eine moralische Autorität beanspruchen.
Die Entscheidung über die weitere Entwicklung der ICANN ist
zunächst einmal vertagt. Ein Reformausschuss soll bis Ende Mai
Empfehlungen zur Neuorganisation vorlegen. Diese sollen dann auf der
nächsten ICANN-Konferenz im Juni in Bukarest beraten werden.(Peter Zschunke/AP/APA)
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