In dem Feuerwerk, das der aus Chile stammende, später in Mexiko aufgewachsene, heute in der Nähe von Barcelona lebende Roberto Bolaño vor Jahren, anfangs fast unbemerkt, am Literaturhimmel gezündet hat, ist der Roman Die wilden Detektive die Apotheose.

Alles geht da auseinander hervor und ineinander über, die Bücher, die Kapitel, die Sätze, die ihre sprühenden Schleifen ziehen. Im Erzählband Llamadas telefónicas (1997) trägt der mittlere Abschnitt den Titel Detectives, und eine der darin vorkommenden Figuren ist ein düsterer Detektiv (El Gusano, der Wurm), der dem jugendlichen Icherzähler von seinem Heimatdorf Villaviciosa erzählt, dessen Einwohner entweder als Mörder oder als Wächter arbeiten. Nach Villaviciosa kommen auch die "wilden Detektive" auf der Suche nach der mythischen Cesárea Tinajero, ihrer literarischen Vorläuferin, die ihr Leben hingibt, damit sie, die jungen Dichter, ihre verrückte Tour fortsetzen können.

Das Milieu der Erzählung von El Gusano, der Ort, der Alameda-Park im Zentrum von Mexiko-Stadt, die umliegenden Buchhandlungen, die Zeit, Mitte der Siebzigerjahre, sind dieselben, hier nehmen die Abenteuer, hier nimmt die Bewegung des Viszeralrealismus oder Realviszeralismus, von der Bolaños Bücher die letzte Frucht sind, ihren Ausgang. Die vibrierende Kraft und Leichthändigkeit dieses Schreibens hat hier ihren Ursprung und ist bis heute nicht versiegt. Nur deshalb kann Bolaño seine Geschichten so überzeugend aus der Vergangenheit in die Gegenwart fortführen. Kein Aufarbeiten einer fernen Epoche, nein, sondern ein unbeirrtes Weitermachen auf einem Weg, auf dem viele, eigentlich so gut wie alle gescheitert sind. 1966 erschien in Mexiko De perfil, der zweite (!), 350-seitige Roman eines gewissen José Agustín, der zu diesem Zeitpunkt gerade erst großjährig geworden war. José Agustíns Bücher werden in Die wilden Detektive zweimal als Lektüre erwähnt; der rasante Rhythmus und das Lebensgefühl - Sex, Drogen, Aufmüpfigkeit gegen jedes Establishment - im ersten, 1975/76 spielenden Abschnitt von Bolaños Roman erinnern an De perfil.

José Agustín, der mexikanische Beatnik, konnte seine frühen Husarenstücke später nicht wiederholen, er blieb so etwas wie der ewige Jüngling der mexikanischen Literatur. Bei Bolaño ist das anders, seine Autorschaft ist derart durchtränkt von literarischer Kultur, dass er den jugendlichen Elan auf allen Ebenen des Erzählens und noch in komplexen Strukturen fruchtbar zu machen versteht.

In Die wilden Detektive spürt Bolaño, alles andere als naiv, dem anfangs nur drohenden, dann tatsächlich und wiederholt eintretenden Verlust der Vitalität nach. In diesem Sinn ist sein Roman die Beschreibung eines entropischen Prozesses, der auch zeitgeschichtlich definierbar ist: von der Aufbruchsstimmung um 1968 zur verwirrten Epoche nach 1989, in der wir heute leben. Was als Komödie beginnt, endet als Tragödie: Diesen Satz und seine biografischen Begründungen zelebriert Bolaño in allen möglichen Varianten. Was als Lebensfreude beginnt, endet mit Enttäuschung, Kälte, Erstarrung. Belano, das Alter Ego des Autors, geht nach Afrika in die zerrüttetsten Länder (Ruanda, Angola), weil er zu sterben wünscht. Doch dann nimmt er von diesem Wunsch wieder Abstand. Was aus ihm letztlich wird, wissen wir nicht. Eine der Nebenfiguren - aber im Grunde sind in diesem Roman alle zugleich Neben- und Hauptfiguren - des Romans sagt während einer Autofahrt: "Es geht mir nicht um die Realviszeralisten", sondern "ums Leben, um das, war wir, ohne uns darüber klarzuwerden, verloren haben und was wir davon wieder zurückgewinnen können." Und auf die skeptische Frage seines Beifahrers wiederholt er: "Was wir verlieren, können wir unversehrt zurückgewinnen." Das Dumme ist, dass er kurz darauf einem Lastwagen ausweichen muss, von der Fahrbahn abkommt und den Unfall nicht überlebt. Die wilden Detektive ist ein über weite Strecken begeisternder, aber oft auch, wenn die Komödie unwiderruflich ins Tragische abgedriftet ist, todtrauriger Roman. Am Ende scheitern wir alle - und doch, wäre an dem Satz vom Zurückgewinnen des Verlorenen nicht etwas Wahres, es wäre ganz undenkbar, dass Romane wie dieser überhaupt entstehen können.

Apropos Figuren, Haupt- und Nebenstränge, Wege und Umwege: Natürlich stehen im Zentrum des Blickfelds jene verschollenen Personen, denen irgendwer nachforscht (die Identität dieses aufschreibenden, aufnehmenden und pluralen Detektivs bleibt unbestimmt): Cesárea Tinajero, Arturo Belano, Ulises Lima, alle drei Dichter mit fragwürdigem Werk.

Die Zeugen, die sie gesehen haben, nehmen die Befragung oft nur zum Anlass, um ihre eigene Lebensgeschichte auszubreiten. Die Hauptfiguren sind nicht unbedingt die, über die wir am meisten erfahren. Und der, der dem ganzen Konvolut mit seinem Tagebuch überhaupt erst den Anstoß und Aufschwung gibt, der siebzehnjährige Realviszeralist García Madero, bleibt über Hunderte von Seiten unerwähnt (wie es scheint, hat er kein einziges Gedicht hinterlassen). Dieser García Madero ist vom Glück - jedenfalls von den Frauen - begünstigt, ein unbekümmerter Jüngling, dessen Lustfähigkeit und Einfallsreichtum im Sexuellen schier grenzenlos sind.

Ulises Lima hingegen, das eigentliche Haupt der Realviszeralisten, hat weniger Glück, im Gegenteil, er zieht, auch durch seine Sperrigkeit, immer wieder das Unglück auf sich. Er scheint dafür gemacht, in Armut und Poesie zu vegetieren. Denkwürdig ist seine Begegnung mit Octavio Paz in einem "versunkenen Park", die Bolaño erfindet.

Ganz nebenbei bekommen die in Mexiko besonders reich sprießenden Funktionäre und Honoratioren der Literatur ihr Fett ab. Wobei Bolaño mit Paz noch recht zart umgeht. Die Sektretärin Don Octavios bemerkt einmal: "Man fragt sich doch, wie hat er es angestellt, dieser Mann, an so verschiedenen und auch noch so weit auseinanderliegenden Orten wie Triest, Sidney, Córdoba, Helsinki, Neapel, Bocas del Toro (Panama), Limoges, Neu Delhi und Monterrey so viele Freunde zu finden?" Das habe ich mich auch schon öfters gefragt.

Die Lebenswege der zahlreichen Figuren kreuzen oder streifen einander, manchmal laufen sie längere Zeit parallel, in anderen kommt es nur zu kurzen, mitunter heftigen Berührungen. Ein gewisser Heimito Künst, ein junger Wiener mit millenaristischen Neigungen, lernt Ulises Lima in Israel kennen, wo er, Heimito, seiner (halluzinatorischen?) Selbstwahrnehmung zufolge ein Atomkraftwerk ausspioniert.

In diesem Kapitel finden sich seltsame Parallelen zu Josef Haslingers Opernball, nur dass Bolaño nicht mit großem erzähltechnischem Aufwand, sondern mit Inspiration und leichter Hand ans Werk geht. Paris, Barcelona, Galicien sind weitere Stationen dieses Welt-Romans, und der Showdown, zurück im fernen Jahr 1976, findet in der Wüste von Sonora statt. Die Leichtigkeit von Bolaños Erzählen rührt nicht zuletzt daher, dass er fast ausschließlich seine Figuren sprechen lässt; auch die Tagebuchaufzeichnungen García Maderos sind mündlicher Rede sehr nahe. Aus diesem vielfältigen Material fügt er sein großes Erzählwerk zusammen, organischer, als die Collageromane der experimentellen Periode es waren, und oft so waghalsig, dass man sich fragt, ob das wohl gut gehen wird, und am Ende staunt, dass es so gut gegangen ist, besser als bei den meisten konventionell gestrickten Erzählungen.

Mit Bolaño und einigen anderen Autoren Lateinamerikas zeichnen sich Möglichkeiten einer neuen Literatur fern vom so genannten magischen Realismus ab, die ihre lokalen Ursprünge bewahrt und zugleich weltoffen ist, erzählsüchtig und doch aufs Wort bedacht, unverfroren und intensiv. (Von Leopold Federmair - Album, 13.04.2002)