Nahost
Rotes Kreuz: Jenin sieht wie nach einem Erdbeben aus
Israelischer UNO-Botschafter weist Vorwürfe eines Massakers zurück - amnesty fordert Aufklärung - UNO "bestürzt"
Genf/London - Das palästinensische Flüchtlingslager Jenin im
Westjordanland sieht nach den tagelangen Kämpfen zwischen
Palästinensern und der israelischen Armee wie nach einem Erdbeben
aus. Das sagte der Sprecher des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK),
Vincent Lusser, am Dienstag in Genf. Nach einer kurzen Inspektion
eines kleinen Teils des Lagers sei es für genaue Angaben über die
Toten und die Zerstörung noch zu früh. Wichtigste Aufgabe sei es, den
Tausenden der seit Tagen eingeschlossenen Zivilisten zu helfen sowie
die Leichen zu bergen. Auf Grund der großen Schäden in dem Flüchtlingslager sei schweres
Räumgerät wie bei Katastropheneinsätzen nach Erdbeben notwendig,
sagte der Sprecher der UNO-Hilfswerkes für Palästina-Flüchtlinge
(UNRWA), Rene Aquarone. Dies sei gegenwärtig aber nicht vorhanden.
Unter den Schuttbergen befänden sich auch noch Überlebende.
Die Verteilung von Lebensmitteln in Jenin war nach Angaben des
UNRWA an einer zu spät erteilten Genehmigung der israelischen Armee
gescheitert. Im Lager befänden sich Tausende von Menschen, die seit
Tagen ohne Wasser, Nahrung und Medikamente seien, sagte Aquarone.
Isreal verwehrte Zugang
Die israelische Armee hatte mit Beginn ihrer Militäroperation vor
zehn Tagen Jenin zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Trotz aller
Proteste und Hinweise auf das humanitäre Völkerrecht und die Genfer
Konventionen hatte Israel den Hilfsorganisationen keinen Zugang zum
Lager gestattet.
Das UNO-Hilfswerk geht davon aus, dass die Zahl der getöteten und
festgenommenen Palästinenser genau ermittelt werden kann. Alle in dem
Lager lebenden Flüchtlinge seien bei der UNRWA registriert gewesen.
Deshalb habe er wenig Zweifel, dass die Zahl der Getöteten
festgestellt werden könne, sagte Aquarone. Von dem Lager gebe es auch
Luftaufnahmen vor Beginn der Kämpfe. Man könne deshalb auch die
genaue Zerstörung ermitteln sowie die notwendige finanzielle Hilfe
zum Wiederaufbau.
Unterschiedliche Interpretation
Die Hilfsorganisationen wollten sich nicht zu dem Vorwurf der
Palästinenser äußern, die israelische Armee habe in dem
Flüchtlingslager ein Massaker verübt. "Es gibt eine weit gehend
unterschiedliche Interpretation, was passiert ist", sagte Lusser.
Israels UNO-Botschafter Yaakov Levy wies auf der
Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Genf Vorwürfe eines
Massakers zurück. Gemeinsam mit dem IKRK würden die getöteten
Palästinenser geborgen, fotografiert und dokumentiert. Auf Grund der
Sprengfallen müsse die Bergung vorsichtig geschehen. Levy warf den
Palästinensern vor, für das große Ausmaß der Schäden selbst
verantwortlich zu sein. Sie hätten ganze Häuser gesprengt und
Dynamitfallen gestellt.
Der palästinensische UNO-Botschafter Nabil Ramlaui sprach von
Schäden, die denen in den palästinensischen Flüchtlingslagern von
Sabra und Shatila im Libanon-Krieg von 1982 glichen. Damals hatten
christlich-libanesische Milizen unter den Augen der israelischen
Armee Hunderte von Palästinensern getötet.
amnesty fordert Aufklärung
Die Menschenrechtsorganisation amnesty
international (ai) hat eine sofortige Untersuchung des Todes von
"Hunderten von Palästinensern" im Flüchtlingslager Jenin gefordert.
In einer am Dienstag in London veröffentlichten Erklärung heißt es:
"Wir fürchten, dass entscheidende Beweise zerstört werden, falls
Israel weiterhin die Außenwelt von dem Lager abschottet." Eine
Expertendelegation von amnesty hat Zugang zu dem Lager erbeten.
Die Beauftragten, darunter in der Gerichtsmedizin geschulte
Experten und Anwälte, mussten nach eigenen Angaben zwei israelische
Straßenkontrollen passieren und anschließend zwei Stunden zu Fuß
laufen, um zu dem Lager zu gelangen. Zunächst blieb unklar, ob sie
inzwischen Zugang erhalten haben. Augenzeugen hätten berichtet, dass
bewohnte Häuser von israelischen Panzern zerstört und anschließend
dem Erdboden gleich gemacht worden seien. Kinder seien in den Straßen
verblutet, hätten die Augenzeugen berichtet.
UNO-Menschenrechtskommission "bestürzt"
Die UNO-Menschenrechtskonferenz in Genf forderte mit Nachdruck
eine Einreisegenehmigung für Menschenrechtskommissarin Mary Robinson.
In einer mit großer Mehrheit angenommenen Resolution wird "tiefe
Bestürzung" darüber ausgedrückt, dass Israel einem entsprechenden
Auftrag bisher nicht nachgekommen sei. Deutschland, Frankreich und
Großbritannien enthielten sich der Stimme. Robinson war vor elf Tagen
von der Menschenrechtskommission aufgefordert worden, in den Nahen
Osten zu reisen. (APA/dpa)