Wahlkampf im 8. Budapester Stadtbezirk, dem Harlem der Donaumetropole. Von den Häusern blättert der Verputz, die Menschen, die in den Hauseingängen herumlungern, und die Kinder, die auf der Straße spielen, sind von dunklem Teint - es sind Roma. Der nahe Orczy-Park verströmt den Charme des Praters der 60er-Jahre. Doch heute erfüllt ihn Leben: Der sozialistische Spitzenkandidat Péter Medgyessy soll kommen.

Das Ethno-Folk-Ensemble "Ando drom" spielt auf. Auf der Wiese mischen sich Roma und "Weiße" auf natürliche Weise. Die Probleme des Bezirkes, unter denen letztlich alle gleichermaßen leiden - Armut, Arbeitslosigkeit, Prostitution - scheinen für einen kurzen, unbeschwerten Nachmittag vergessen.

Medgyessy kommt wirklich. Der elegante Banker hat im Wahlkampf doch noch eine volksnahe Sprache erlernt. "Es ist ganz wichtig, dass ihr am nächsten Sonntag zur Wahl kommt", schärft er seinen Zuhörern ein. "Nachher werde ich stets mit euch sein, denn ohne euch geht's nicht."

Etwa 400.000 bis 500.000 Roma leben in Ungarn. Ihre Benachteiligung ist über Jahrhunderte strukturell gewachsen. Die großen Modernisierungsschübe verpassten sie. Auch nach der demokratischen Wende standen sie eher als Verlierer da: Die sozialistischen Industriebetriebe, die einen jeden beschäftigten, brachen zusammen, die Ernährer der Familien blieben ohne Arbeit. Die meisten ungarischen Roma sind dennoch halbwegs in das Gesellschaftsgefüge integriert: Sie verfügen über angemeldete Wohnsitze, beziehen bescheidene Sozialhilfe und ihre Kinder gehen zur Schule, auch wenn sie oft segregiert und in "Sonderschulen" abgeschoben werden.

Selbstbedienungsläden

Politische Integration hat allerdings noch keine stattgefunden. Die Sozialisten und früher die liberalen Freidemokraten, als sie noch stark waren, verhelfen immer wieder einzelnen Roma-Persönlichkeiten über ihre Parteilisten zu Parlamentsmandaten. Die meisten der zahllosen Roma-Parteien sind öffentlich subventionierte Selbstbedienungsläden für ihre selbsternannten Funktionäre. Eine davon, das "Lungo drom" des Flórian Farkas, band Ministerpräsident Viktor Orbán demonstrativ in sein vom Bund Junger Demokraten (Fidesz) beherrschtes Wahlbündnis ein.

Das Wahlverhalten der Roma ist aber in Wirklichkeit eine unbekannte Größe. Viele von ihnen dürften, wie die meisten Armen, Wahlen einfach ignorieren. Bei diesem Urnengang war die Wahlbeteiligung mit 71 Prozent überraschend hoch. Wahrscheinlich haben auch mehr Roma als sonst von ihrem demokratischen Grundrecht Gebrauch gemacht haben. Und wahrscheinlich haben sie nicht "ethnisch" ("Lungo drom"/Fidesz) gewählt, sondern entsprechend ihrer "Klassenlage", womit sie die Sozialisten stärkten. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 18. 4.2002)