Paris - Während seiner Amtszeit als französischer
Premier hat der Sozialist Lionel Jospin ein großes Projekt der Linken
in die Tat umgesetzt: die 35-Stunden-Woche. Nun könnte ihm jedoch
dieser Erfolg zum Nachteil geraten, wenn er am kommenden Sonntag
gegen Jacques Chirac um das Amt des Präsidenten antritt. Die
Franzosen diskutieren nicht mehr über die Verteilung von Arbeit und
Freizeit. Sie beschäftigten sich in den Wochen vor den
Präsidentenwahlen vor allem mit Kriminalitätsraten, Drogenabhängigen
und Taschendieben. Ein Thema, das dem Vollblut-Politiker Chirac eher
liegt als dem ehemaligen Wirtschaftsprofessor Jospin. Als Jospin im Februar seine Kandidatur wenige Tage nach Chirac
verkündete, rückte er zum Verdruss vieler Parteigänger die innere
Sicherheit an die zweite Stelle seiner fünf Schwerpunkte. Aber nicht
nur beim Thema Sicherheit vermissen linke Wähler ein eigenständiges
Profil Jospins. Sein früherer Parteifreund, der heutige Kandidat der
"Bürgerbewegung", Jean-Pierre Chevenement, hat seinen Wahlkampf lange
Zeit mit dem Vorwurf bestritten, Jospin gleiche Chirac wie ein Ei dem
anderen, die wahre Alternative zu "Monsieur Chirospin" sei er selbst.
Kurzzeitig lag Chevenement damit in den Umfragen bei 14 Prozent.
An die zehn Prozent erreichte zeitweilig die Trotzkistin Arlette
Laguiller, die Jospin vorwirft, jeden Kontakt zu den französischen
Arbeitern und ihren Klassenproblemen verloren zu haben. Jospin kann
sich bei beiden derzeit nicht sicher sein, dass sie ihre Wähler in
der zweiten Runde am 5. Mai, der voraussichtlichen Stichwahl gegen
Chirac, zu seinen Gunsten mobilisieren. Auch die Grünen, die zu
Jospins Regierungskoalition gehören, haben mit dem Entzug ihrer
Unterstützung gedroht, sollte er sich nicht klar hinter einen
langfristigen Ausstieg aus der Atomenergie stellen. Der Kandidat der
Grünen, Noel Mamere, kann nach einigen Umfragen mit bis bis zu acht
Prozent der Stimmen rechnen.
Jospin verlässt sich nach eigenen Worten darauf, dass sich die
Linke in der Stichwahl um ihn scharen wird. Er sei schließlich der
Kandidat, über den sie zumindest einen Teil ihrer Forderungen
durchsetzen könne. Das war anders, als er vor fünf Jahren mit einem
überraschend guten Ergebnis aus seinem ersten Kampf um das
Präsidentenamt hervorging und kurz darauf die Sozialisten erfolgreich
in die Parlamentswahlen führte. Jospin warb für eine stärkere
Besteuerung von Gewinnen und Senkung der Sozialabgaben für kleinere
Einkommen und galt als Hoffnungsträger der Linken.
Wenn Kritik an seiner Tendenz zur politischen Mitte laut wird,
verweist der 64-jährige Jospin gerne auf seine Kindheit, in der er
linkes Selbstverständnis und linke Praxis an seinen Eltern erlebt
habe. In der Partei war er lange Jahre Francois Mitterrands
Vertrauter und folgte ihm im Vorsitz nach, als dieser 1981 zum
dritten Mal Präsident wurde und dann mit Chirac als Premierminister
zusammenarbeiten musste. Jospin kündigte damals im Parlament eine
Opposition "ohne Konzessionen" an.
Wenn Jospin Präsident werden will, braucht er die Unterstützung
der politischen Mitte, wo er seinem alten Gegner Chirac zwangsläufig
nahe rückt. Um in der ersten Wahlrunde eine gute Basis zu Stande zu
bringen, braucht er allerdings vor allem die Unterstützung des
eigenen Lagers. (APA/Reuters)