"Denken die Österreicher nur in Kategorien von Arbeits-und Warenmärkten, denken sie überhaupt nicht an die Idee einer Gemeinschaft?" - "Natürlich geht es am Ende um Cash. So war es schon immer in der EU." Diese Worte zweier führender polnischer Repräsentanten im Gespräch mit österreichischen Journalisten umreißen das Spannungsfeld, in dem sich die Beitrittsverhandlungen mit den Kandidatenländern bewegen, je näher sie der Endphase kommen. Die Frage stammt von Polens Vertreter im EU-Konvent, dem früheren Premier Józef Oleksy, die Feststellung vom polnischen Chefunterhändler mit Brüssel, Jan Truszczynski.

Gemäß dem so genannten Nizza-Fahrplan soll die nächste EU-Erweiterungsrunde mit 1. Jänner 2004 beginnen. Das wäre in etwas mehr als 20 Monaten. Mit knapp 39 Millionen Einwohnern ist Polen größer als alle neun anderen Kandidaten der ersten Reihe (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slo- wenien, Estland, Lettland, Litauen, Zypern, Malta) zusammen. Dass Polen nicht von Anfang an dabei ist, gilt aus politischen Gründen als unvorstellbar. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass sich die Erweiterung eben wegen Polen verzögert.

Warschauer Spitzenvertreter betonen dagegen unisono, dass es sicher nicht an ihrem Land liege, wenn der Nizza-Fahrplan nicht einzuhalten sei. Das ist aufgrund der Faktenlage zwar eine gewagte Behauptung, hat in einem weiteren Sinn aber einiges für sich.

Zur Faktenlage: Angesichts der Größe Polens und der wirtschaftlichen und sozialen Dimension seiner Landwirtschaft (1,9 Millionen Betriebe, fast zehn Prozent der Bevölkerung leben ausschließlich oder großteils von der Agrarproduktion) werden die Verhandlungen über das polnische Agrarkapitel zum Angelpunkt der gesamten EU-Erweiterung. Warschau weist die von der EU-Kommission vorgeschlagene Etappenregelung bei den Direktzahlungen an die Bauern (Beginn mit 25 Prozent, volle Höhe erst nach 13 Jahren) als wettbewerbsverzerrend zurück und droht neuerdings sogar mit Schutzzöllen auf EU-Lebensmittel. Die Kommission wiederum argumentiert, dass höhere Direktzahlungen an die Bauern die unvermeidliche Agrarreform nur hinauszögerten.

Diese Mittel gibt es indes schon jetzt, in den diversen Vorbeitrittsprogrammen der EU. Polen (wie auch andere Kandidaten) konnte bisher keines der Programme voll ausnützen. Die Gründe: Informationsdefizite, mangelnde Kapazitäten zur Erstellung der Projekte, Inkompetenzen in der staatlichen Verwaltung, fehlendes Geld für die nationale Kofinanzierung.

Dass sich all dies in eineinhalb Jahren entscheidend bessert, ist unwahrscheinlich. Somit würde dem EU-Mitglied Polen Ähnliches wie Spanien nach dessen Beitritt 1986 drohen: zunächst keine Mittel aus den Struktur- und Landwirtschaftsfonds zu erhalten, aber den vollen Mitgliedsbeitrag berappen zu müssen und damit - als eines der ärmsten Länder der Union - Nettozahler zu sein.

Dazu wird es nicht kommen. Die Kommission hat für diesen Fall bereits Ausgleichszahlungen angekündigt. Aber abgesehen davon, dass dies alles erst Vorgeplänkel sind und die definitive Verhandlungsposition der EU längst noch nicht feststeht, wird hier eines klar: Der Termin der nächsten Erweiterungsrunde, die sich von allen vorangegangenen substanziell unterscheidet, ist letztlich politisch zu entscheiden.

Ein Hinausschieben um ein, zwei Jahre wird die Transformationsprobleme des Schlüssellandes Polen nicht wesentlich entschärfen. Eine noch längere Verzögerung aber könnte die Stimmung in ganz Mittelosteuropa zum Kippen bringen - und damit den eigentlichen Zweck der Integration als europäisches Friedenswerk gefährden. Die wirklichen Veränderungen werden erst in der erweiterten Union stattfinden (müssen), und sie werden auch für die etablierten Mitglieder nicht schmerzlos bleiben (können). Das praktische Funktionieren der Idee Europa ist auch in bar zu bezahlen. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 20/21.4.2002)