Bei uns sind sie stumm und winzig klein, und meist findet man sie nur angestaubt auf der Fensterbank, tot nach den endlosen Versuchen, durch das Glas wieder nach draußen zu gelangen. Doch im Süden sind Zikaden kleinfingerlange Riesen - und trotzdem hoch oben in den Bäumen für uns unsichtbar. Und was wäre der gesamte Mittelmeer-Ferienraum ohne ihr Lied?"Kleine Zikade, wie glücklich bist du doch, wie du da im Laubwerk der Bäume, von Tautropfen gelabt, hochmütig singst wie ein König", dichtete schon im 6. Jahrhundert vor Christus der Grieche Anakreon. Zitiert wird seine berührende Hymne im mehr als 550 Seiten dicken Begleitband zur Ausstellung "Zikaden - tierisch laut", die im Linzer Biologiezentrum noch bis in den Herbst zu sehen ist. Hochwissenschaftliche Texte wechseln mit Artikeln, die auch dem interessierten Laien eine Tierart näher bringen, die jeder kennt und über die doch kaum jemand Näheres weiß. Geklärt wird zunächst die Frage, wie Zikaden ihren Gesang zustande bringen. Auch wenn sie oberflächlich Heuschrecken oder Grillen ähneln, so sind sie mit diesen doch nicht näher verwandt, sondern zählen zur ganz eigenständigen Ordnung der "Schnabelkerfe" - neben Käfern, Hautflüglern (Ameisen, Bienen), Zweiflüglern (Fliegen) und Schmetterlingen sind die Schnabelkerfe eine der großen Gruppen im Insektenreich und umfassen rund 100.000 Arten. Rund 1500 Zikadenarten sind bekannt, sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie den größten Teil ihres Daseins als unterirdische Larvenformen verbringen. Am konsequentesten tut das die in den USA beheimatete so genannte "17-Jahr-Zikade": Sie lebt 13-17 Jahre im Erdboden und ernährt sich, indem sie Pflanzensäfte aus Wurzeln saugt. Das oberirdische Leben der Zikaden ist kurz - meist singen sie nur einen Sommer lang. Und wie sie das tun, ist einmalig: Sie "sägen" nicht wie Grillen oder Heuschrecken mit den Beinen, sondern besitzen ein Paar schalenförmige "Trommeln" unten am Hinterleib. Durch besonders kräftige Muskeln wird das "Fell" dieser Trommeln in Schwingung versetzt. Nur die Zikaden-Herren "singen", die Damen sind stumm, sie sollen durch den Gesang paarungsbereit gestimmt werden. Und obwohl der Gesang vieler Zikadenarten für menschliche Ohren unhörbar ist, funktioniert diese Methode schon 270 Millionen Jahre - so lange ist die Existenz von Zikaden durch Fossilfunde belegt. Doch auch archäologische Funde berichten von der Zikade: Im antiken Griechenland galt sie als Sinnbild der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, im alten China wurden Verstorbenen zur Wiedergeburt kleine Zikadennachbildungen auf die Zunge gelegt. Für eine ähnliche Symbolik stand die Zikade auch bei manchen Indianervölkern. Dagegen tadelt Lafontaine in seiner berühmten Fabel von der müßiggängerischen Zikade und der fleißigen Ameise deren unbekümmerte Sangeslust. Doch von solch sauertöpischer Moral sollten sich alle, die im Sommer das Vergnügen des Zikadengesangs haben, dieses keinesfalls trüben lassen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21.04.2002)